Darf sich die Schweiz aus dem Pariser Klima-Abkommen freikaufen?

Die Schweiz lagert in großem Stil Maßnahmen an ärmere Länder aus, um die im Pariser Abkommen festgelegte CO2-Reduktion nicht im eigenen Lande umsetzen zu müssen, dennoch die vereinbarten Ziele zu erreichen. Rechtlich ist das möglich (Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens), moralisch aber vollkommen fragwürdig. Ausgelagert (und bezahlt) werden Maßnahmen u.a. nach Ghana, Peru, in den Senegal oder nach Vanatu, und damit in Länder, die (erwartungsgemäß) künftig noch stärker unter dem Klimawandel leiden werden als das, was wir den „globalen Norden“ nennen. Ungleich stärker somit als die Schweiz, die gleichzeitig aber für einen viel höheren CO2-Ausstoß sorgt als die Länder, die für die Schweiz CO2 sparen sollen.

Gleichen wir dieses Verhalten doch mal ab mit verschiedenen ethischen Strömungen und deren Prämissen:

  • Tugendethik: Ein solches Handeln kann nicht tugendhaft sein und zu einem gelungenen Leben führen im Sinne dessen, was ursprünglich der Philosoph Aristoteles damit im Sinn hatte. Welche Tugend sollte mit einem solche Handeln auch einhergehen? Das Maß, die rechte Mitte also wird hier in keiner Weise gefunden.
  • Pflichtethik: Nach Immanuel Kant geht es stets um das Gesollte. Der Zweck heiligt niemals die Mittel, vielmehr müssen die Mittel der inneren Instanz („Was soll ich tun?“) standhalten. Gleichzeitig müssen Handlungen dabei der allgemeinen Vernunft standhalten. Wenn alle Staaten jedoch handeln würden, wie die Schweiz, könn(t)en wir das Pariser Abkommen unmittelbar beerdigen.
  • Fürsorgeethik: Fürsorgliches Handeln umfasst diverse Aspekte, wie die Tugend und die Vernunft, aber auch die Nächstenliebe, die Übernahme von Verantwortung oder den Wunsch nach einem guten Leben. Und diese Fürsorge kann in einer globalisierten Welt nicht auf nationales Wohl, einen nationalen Gedanken begrenzt bleiben.
  • Allein im utilitaristischen Gedankengut kann man Begründungsansätze finden, die das Verhalten der Schweiz in Ansätzen rechtfertigen; wenn (!) der CO2-Ausstoß auch durch die Auslagerungsmaßnahmen weltweit sinkt, ist ein Nutzen vorhaben und die Menschen in den Ländern, in die der Klimaschutz ausgelagert wird, profitieren in Teilen (und zumindest aktuell) von den Investitionen des „globalen Nordens“.

Im Zusammenhang ist diese fragwürdige (wie schon gesagt rechtlich durchaus zulässige) Praxis in Verbindung mit weiteren Fragestellungen zu beurteilen: dazu gehören neben den Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft lokal und global Gerechtigkeitsaspekte oder auch die Normen, nach denen Menschen in Politik, aber auch in der Wirtschaft entscheiden.

Die Frage bleibt also bestehen: Darf sich die Schweiz aus dem Parier Klimaabkommen freikaufen? Ich denke nein, da die Nutzung dieser Möglichkeit jede Bemühung zum Klimaschutz konterkariert. Die Schweiz hatte sich sogar erheblich für die Einführung des genannten Artikel 6 des Pariser Abkommens eingesetzt, und somit von Anfang an nicht global tugendethisch, deontologisch oder fürsorglich gedacht. Und zukunftsfähig ist dieses Handel in keiner Weise.

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Zum Weiterlesen:

Ein interessanter Artikel zum beschrieben Sachverhalt erschien unter der Überschrift „Saubere Bilanz“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe 32/2023.

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Kognitive Dissonanz und Umweltbewusstsein.

Menschliches Handeln ist oftmals paradox – so erkennen wir zwar theoretisch und grundsätzlich meist, was richtig und – in einem moralischen Sinne – gut wäre, richten unsere Entscheidungen und Handlungen in der Praxis aber nicht danach aus. Ein Beispiel dafür ist unser Umgang mit der sog. Klimakrise, also der durch den Menschen beschleunigten Erderwärmung. Die irreversiblen Kippunkte der Atmosphäre, an denen eine Entwicklung mit erheblichen negativen Auswirkungen und Folgen für unser Leben schon heute spürbar ist und erwartungsgemäß künftig unausweichlich wird, rücken bedrohlich nahe.
Umweltministerium und Umweltbundesamt erheben seit 1996 alle zwei Jahre in einer repräsentativen Umfrage, was die Bundesbüger:innen im Rahmen des Zustands der Umwelt und bezogen auf das eigene umweltbewusste Verhalten beschäftigt (vgl. Umweltbewusstsein und Umweltverhalten | Umweltbundesamt). Die Wichtigkeit des Themas „Klima- und Umweltschutz“ ist in der letzten Umfrage von 2022 zwar hinter andere, auch aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen (wie etwa die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs) zurückgetreten und hat leicht an Bedeutung verloren. Dennoch taucht das Thema nach wie vor in den Top 5 der wichtigsten Themen auf und wird von 57 % als „sehr wichtig“ eingestuft. Die überwiegende Mehrheit der Befragten fordert darüber hinaus von „der“ (abstrakt gesprochen) „Politik“, dass klima- und umweltschutzbezogene Aspekte in den Entscheidungen eine weitaus größere Rolle spielen sollten als bisher. Das persönliche Verantwortungsgefühl für diese Entwicklungen ist im Zeitverlauf der Befragung dabei gleichzeitig jedoch zurückgegangen. Und gerade im individuellen Konsumverhalten schlagen sich diese Erkenntnisse parallel nicht oder nur teilweise nieder und das schon bei relativ wenig aufwendig umzusetzenden Maßnahmen. So gaben etwa lediglich 46 % der Befragten an, Ökostrom  zu beziehen und gar nur 30 % machten den Elektrogerätekauf für den eigenen Haushalt von der angegebenen Energieeffizienzklasse der Angebote abhängig.

Wie lässt sich jetzt aber diese Diskrepanz zwischen erkannter Bedeutung und dem  Wunsch nach mehr Klimaschutz einerseits und dem eigenen, oftmals in diesem Sinne nicht nachhaltigen Handeln andererseits erklären?  
Ein Grund liegt sicherlich in den Zwängen und Strukturen, die uns umgeben. Wir sind in eine Wirklichkeit hineingeboren, die sich im kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, technischen, globalen usw. Umfeld dahin entwickelt hat, wo wir heute stehen und die sich stetig weiterentwickelt. Die Wirkung individueller Handlungen ist für die/den Einzelne:n oft nicht spürbar und Veränderungen benötigen entsprechend kollektiv anerkannte und durchzusetzende Rahmenbedingungen. In unserer Demokratie ist eine Möglichkeit dessen, das eigene Wahlverhalten entsprechend anzupassen und „der Politik“ damit den entsprechend der Wahlprogramme legitimierten Auftrag zu erteilen. Die aktuellen Entwicklungen diesbezüglich lassen aber wiederum die schon beschriebene Diskrepanz zwischen Wunsch (Klimaschutz) und Wirklichkeit (sinkende Zustimmungswerte und Wahlergebnisse für „grüne“ Themen, vgl. etwa die Landtagswahlen in Bayern und Hessen 2023) erkennen.

Neben der bestehenden externen gesellschaftlichen und politischen Situation kommt daher ein weiterer (interner, psychologischer) Grund zum Tragen, nämlich das, was in der Psychologie als Kognitive Dissonanz bezeichnet wird. Menschen empfinden Situationen, Informationen oder Entwicklungen als unangenehm – wie beispielsweise eben die bereits heute erheblichen, erleb- und spürbaren Auswirkungen der Klimakrise. Gefangen in diesem Gefühl sind viele Menschen bestrebt, diese Dissonanz aktiv zu verdrängen, zu vermeiden oder zu reduzieren, um in einen Zustand innerer „Konsonanz“ (Festinger 1957/1981, 16) zu kommen. Trotz besseren Wissens tragen somit auch empfundene Hilflosigkeit und das Gefühl, einer Situation sowie externem Druck ausgeliefert zu sein, zu den genannten Verdrängungsmechanismen bei. Neben der subjektiv-individuell verständlichen inneren Entlastungsfunktion, die damit einhergeht, führt die Kognitive Dissonanz kollektiv aber zu Fehlentwicklungen und Zuständen, die gerade nicht zukunftsfähig und in diesem Sinne nicht moralisch „gut“ sind. Unbewusste Gründe, die innerlich einer Änderung des bewussten Verhaltens entgegenstehen, liegen (1) in der Angst vor Verlust begründet, zum Beispiel bezogen auf den Verlust des Lebensstandards oder des Wunsches der Beibehaltung eingeübter Muster, (2) der Unlust, sich mit Alternativen, wie  Ökostromangeboten zu beschäftigen und auch (sich selbst) Fehler einzugestehen, oder (3) schlicht in der Unmöglichkeit der Veränderung – zum Beispiel im Rahmen von bestehenden Pathologien oder fehlender Willenskraft (vgl. Festinger 1957/1981, 39f.).

Wie lässt sich dem Tatbestand der Kognitiven Dissonanz mit allen geschilderten negativen Auswirkungen jedoch entgegenarbeiten? Hier bietet die Moralpsychologie in der Verbindung psychologischer und ethischer Aspekte einen  Lösungsweg an. Die Stärke dieses Lösungswegs macht die wechselseitige Verbundenheit individueller und kollektiver Bedürfnisse, aber auch Anforderungen aus. Interne Hürden der Verhaltensänderung von Menschen finden ebenso Eingang, wie externe Zwänge, die uns im Leben und in unseren Handlungen beschränken. Dabei sind diese Veränderungsprozesse überwiegend langfristig zu betrachten – umso wichtiger, dass wir hier endlich aktiv werden, denken wir an die aktuelle, stetig bedrohlicher werdende Situation bezogen auf die Klimakrise.

Um Verhaltensänderungen umzusetzen, werden Motivation sowie Volition benötigt. Menschen müssen motiviert sein, ihre Handlungen nachhaltiger auszurichten und gleichzeitig innere Hürden und externe Zwänge in der Umsetzung volitional, damit willentlich, zu überwinden. Im Rahmen der Motivation geht es um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Darüber hinaus wird in der modernen Motivationsforschung die These vertreten, dass Menschen gleichzeitig soziale Eingebundenheit spüren müssen, um sich tatsächlich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Erst in der Bezogenheit auf andere Individuen kann sich somit die Erkenntnis durchsetzen, dass, und vor allem warum, bestimmte Handlungen als wichtiger und richtiger erachtet werden als andere. Als Gesellschaft und als Individuum sind wir uns jetzt ja bereits durchaus bewusst, dass – um bei einem oben genannten Beispiel zu bleiben – energieeffiziente Hausgeräte sinnvoller sind als Geräte mit hohem Stromverbrauch. Um diese Erkenntnis aber in konkrete Handlungen umzusetzen, müssen Menschen erkennen, dass diese individuelle Handlung als kollektiv sinnvoll anerkannt und respektiert ist, und dass damit höhere, sinnstiftende Ziele (also zum Beispiel ein Beitrag zur Reduzierung von CO2 in der Atmosphäre zum Schutz von Leben) verfolgt werden. Dadurch kann die Motivation steigen, sich in diesem Sinne umweltbewusst zu verhalten und Hürden in der Umsetzung im Anschluss daran willentlich, bewusst also, zu überwinden.

Die Rahmenbedingungen dafür müssen seitens der Gesellschaft und der politische  Entscheidungsträger geschaffen werden; die Gesellschaft selbst wird dabei ja wiederum durch jede:n Einzelne:n von uns erst gebildet, die politischen Würdenträger von jeder/jedem Einzelnen von uns gewählt. Somit wird die wechselseitige Verwobenheit deutlich und die Tatsache, warum es sich bei einer solchen Entwicklung um einen (langwierigen) Prozess handelt: gesellschaftliche Anerkennung bestimmter Verhaltensweisen und die sukzessive Änderung individuell eingeübter Muster und Verhaltensweisen gehen Hand in Hand, ergänzen und bedingen sich gegenseitig.

Bildungsprozesse helfen dabei, erkannte Veränderungsnotwendigkeiten aktiv zu gestalten. Im Wissen um Zusammenhänge können wir zur Erkenntnis gelangen, dass bestimmte (zum Beispiel nachhaltige) Verhaltensweisen besser sind als andere – und das durchaus in einem moralischen Sinne. Je mehr Menschen diese Erkenntnis gewinnen, umso eher werden sich die gesellschaftlichen und damit auch die politischen Prozesse verändern. Welches Verhalten, welche Entscheidung dann als „besser“ zu verstehen sind, bleibt Bestandteil der gesellschaftlichen Diskussionen. Ein Wert, der unabhängig der aktuellen Entwicklungen dabei eine große Rolle für Entscheidungen und im Rahmen der Diskussionen spielt, ist der der Generationengerechtigkeit. Das Ziel eines jeden Menschen und in jeder Generation sollte es sein, über den Wunsch einer zufriedenstellenden eigenen Situation hinaus, auch den Kindern und Enkeln eine lebenswerte Zukunft auf dieser Erde zu erhalten.

(Moralische) Bildung, das Wissen um Zusammenhänge und Notwendigkeiten sowie das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen (Gesellschaft, Zukunft) zu sein, kann Menschen dabei unterstützen, als unangenehm empfundene Situationen (Dissonanzen) auszuhalten. Und diese Punkte können ergänzend dazu führen, die Motivation zu fördern, bewusst gegen diese inneren, aber auch gegen äußere Widerstände anzukämpfen.

Die Rahmenbedingungen dazu sind seitens der Gesellschaft und der Politik zu schaffen. So wird aus der Wissenschaft und in der Forschung etwa die Notwendigkeit einer „sozial-ökologischen Transformation“ propagiert. Die soziale Komponente, damit die Schaffung sozialen Ausgleichs für im weitesten Sinne benachteiligte Menschen und Personengruppen lokal und global ist die Aufgabe, nicht zuletzt wiederum, um die Akzeptanz erkannter Notwendigkeiten im Rahmen von Verhaltensänderungen zu stärken. Somit liegt eine große Verantwortung bei den (gewählten) Entscheidungsträgern in Politik, aber auch in Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – ohne, dass wir uns als Menschen, Bürger:innen und Wähler:innen letztendlich von unserer eigenen Verantwortung freisprechen können.

Zum Weiterlesen:

Das Standardwerk zum Thema der Kognitiven Dissonanz stammt von Leon Festinger (1957/1978): Theorie der kognitiven Dissonanz. Liebefeld-Bern: Verlag Hans Huber.

Andreas Püttmann (2009): Kognitive Dissonanz. Über unsere verderbliche Neigung, die Kenntnisname von Wirklichkeiten zu verweigern“, in: Die Politische Meinung, Nr. 480, S. 74-76. Der Autor greift weitere (aktuelle) Beispiele auf, inwiefern Wunsch und Wirklichkeit oftmals erheblich auseinanderklaffen.

Die wissenschaftliche Forderung einer sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft lässt sich gut hier nachlesen: Johannes Wallacher (2021): Wie die sozial-ökologische Transformation gelingen kann. In: Stimmen der Zeit 8/2021.
Wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann | Stimmen der Zeit (herder.de)

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Unsere Apokalypse-Blindheit.

Nicht erst im laufenden Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021 werden zwei widerstreitende Positionen in ihren Extremen diskutiert: Eine Seite fordert eine radikale Umkehr unserer Lebensweise zur Einhaltung des 1,5 Grad-Klimaziels und damit dem Erhalt des Lebens. Die andere Seite bestreitet, dass es maßgebliche Änderungen in unserem Verhalten geben müsse, würden sich doch technische Lösungen finden lassen, die Folgen der Klimaerwärmung abzufedern und für die Menschheit zumindest erträglich zu gestalten.

Vorab: Ich glaube aus verschiedenen Gründen nicht, dass technische Entwicklungen allein die Lösung sein können, um die Klimakrise zu bewältigen. Wir sollten uns die Technik auch künftig zunutze machen, diese kann jedoch nur ein „auch“, kein „alleine“ bedeuten, gerade, wenn man sich die weltweiten Entwicklungen ansieht. Technische Möglichkeiten, aber auch Grenzen, sind parallel gesamtgesellschaftlich und global unabdingbar zu diskutieren und abzuwägen.

Woher kommt bei vielen Menschen jetzt aber eine unbedingte Technikgläubigkeit und die – letztlich – doch Zuversicht (oder bloße Hoffnung?), auf einer solchen Basis technischer Weiterentwicklung würde alles „gut“ werden können?

Der Philosoph Günther Anders (1902-1992) hat bereits 1956 (!) äußerst hellsichtig den Zusammenhang zwischen unserer Fortschrittsgläubigkeit und einer „Apokalypse-Blindheit“ herausgearbeitet. Jetzt muss man Anders aus seiner Zeit heraus lesen, er war u.a. einer der Begründer der Anti-Atomkraft-Bewegung. Was aber verbirgt sich hinter seiner Theorie und warum können wir die Gedanken Anders‘ dennoch hervorragend in unsere Zeit übertragen?

Die klassische Definition der industriellen Revolutionen zählt folgende Entwicklungsschritte auf dem Weg in unser heutiges, digitales Zeitalter auf: Die Nutzung der Dampfkraft und die Mechanisierung der Produktion, die Elektrifizierung des Lebens und die Fließbandfertigung, die Automatisierung mittels computergesteuerter, speicherbasierter Anwendungen sowie aktuell die Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche.    
Dem setzt Günther Anders seine eigene Definition dreier industrieller Revolutionen gegenüber. Die erste Revolution verortet er in der Tatsache, dass Maschinen es selbst sind, die maschinelle Teile herstellen. Entgegen dem Ergebnis des Handwerkers entsteht so erst am Ende der Produktionskette ein fertiges (Konsum-)Gut. Als zweite industrielle Revolution bezeichnet Anders – und das bereits Mitte der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts! – die Tatsache, dass durch Werbung erst Bedürfnisse und damit auch ein immer Mehr an zu produzierendem Bedarf geschaffen werden. Produktzyklen richten sich demnach nicht mehr nach der technischen Lebensdauer, vielmehr werden einzelne Produkte durch ihre Nachfolger abgelöst, die besser, schneller, noch funktionaler sind und alleine deswegen begehrt werden. Und als dritte industrielle Revolution definiert Anders die Nutzbarmachung der Kernenergie. Namentlich die Atombombe markiert bei Anders eine übergeordnete, nein, DIE übergeordnete Stellung: der Mensch ist seit der Entwicklung der Atombombe in der Lage, sich selbst vollständig auszurotten. Diese Tatsache schwebt seitdem über uns allen, hinter dieses Wissen kommen wir als Menschheit nie mehr zurück. Daher kann es – nach Anders – auch keine weitere industrielle Revolution geben. Mit der Gefahr der totalen Auslöschung haben wir das letzte denkbare Zeitalter erreicht. Die Kernenergie in ihrer absoluten Wirkung kann noch nicht mal mehr Mittel zum Zweck sein – sollten wir uns als Menschheit wirklich ausgerottet haben, gibt es keinerlei Zwecke und auch keine Mittel mehr, diese zu verfolgen:

„[…] anstelle des trostlosen „Es wird gewesen sein“ [würde] das noch trostlosere „Nichts war“ seine von niemandem registrierte und darum gültige Herrschaft antreten.“ (Anders 1985, 245.)

Mit und seit der Atombombe sind wir als Menschheit die „Herren der Apokalypse“ (Anders 1985, 239), jederzeit in der Lage uns vollständig auszulöschen. Gleichzeitig sind wir – so Anders weiter – als Menschheit unfähig zur Angst vor dieser Tatsache und apokalypseblind. Woraus resultieren diese Tatsachen aber?   
Erstens fehlt uns das Vorstellungsvermögen. Weiter als in eine kurzfristige Zukunft können (und wollen) wir nicht denken. Und auch wenn wir wissen, eine Stadt komplett auslöschen zu können, fehlt uns das (bildliche) Vorstellungsvermögen der realen Tatsachen und Auswirkungen dessen. Zweitens klaffen – damit zusammenhängend – das Machen und das Fühlen sowie das Wissen und das Begreifen auseinander. Zwar haben wir Angst vor der eigenen Sterblichkeit, können uns gleichzeitig nicht in die reale Todesangst anderer Menschen, wie die dieser Stadt, einfühlen. Drittens sind wir fortschrittsgläubig. Diese Fortschrittsgläubigkeit definiert sich wiederum über mehrere Aspekte: einmal in der Zuversicht, dass alles immer besser wird und der Neigung des Menschen, alles erlebte und denkbare Schlechte in der Vergangenheit, niemals in der Zukunft zu verorten. Zukunft ist für uns nicht mehr das Kommende, sondern das (technisch) Gemachte. Gleichzeitig haben wir – in post-religiöser Zeit – den Verlust der (absoluten) Höllenangst erlitten. Diese alles übersteigende Angst fehlt uns modernen Menschen.

Fortschrittsgläubigkeit bedingt somit Apokalypse-Blindheit.
Beides verortet Anders im Bereich moralischer Fragen. Es muss – übertragen auf unser eigenes Leben – darum gehen, was des technisch Machbaren wir können, dürfen, sollen und auch wollen. Für sein Handeln kann der Mensch Verantwortung übernehmen. Der moderne, arbeitsteilig und konformistisch organisierte Mensch handelt im Berufsleben jedoch nicht, sondern er tut lediglich. Eine Reflexion über die eigene Arbeit kann in einem solchen bloßen Tun nicht mehr stattfinden, der Mensch überlässt sich der Arbeit, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Damit kann er auch kein Gewissen (mehr) haben. Gleichzeitig gilt dieses Tun als absolut neutral. Im Bereich des Berufslebens gibt es kein gut oder böse, Erwerbsarbeit und Produkt werden getrennt. Egal, wofür das Produkt dann verwendet wird, wofür es steht, was es bedeutet, die Arbeit daran wird als moralisch neutral betrachtet. Und so kann der Mensch in seinem Tun gar kein Gewissen entwickeln.

Welche Parallelen zu heute kann man daraus ziehen, welche der Punkte können auf unsere heutige Situation übertragen werden?   
Wir leben noch immer unter der Bedrohung der Tatsache, dass wir uns als Menschheit atomar ausrotten können. Weder ist ein weltweiter Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie zu erwarten noch eine atomwaffenfreie Welt. Gleichzeitig glauben wir nicht an unsere eigene Vernichtung, sind also apokalypseblind.
Diese Blindheit lässt sich aber ebenso für die Bedrohung durch die menschengemachte globale Erwärmung konstatieren. Allen schon heute negativen Szenarien und Prognosen zum Trotz sind wir zu einer (radikalen) Veränderung unserer Lebensweise nicht bereit. Mit Anders gesprochen fehlt uns das Vorstellungsvermögen, welche realen (!) negativen Auswirkungen auf uns und unsere Kinder warten, wenn die globalen Kipp-Punkte überschritten sind. Und es fehlt wohl auch die Angst davor. Die Erwartung einer besseren Zukunft (die wie selbstverständlich durch Technik besser gemacht wird), unbedingte Fortschrittsgläubigkeit also, lässt viele von uns ruhig schlafen.

Gleichzeitig gibt es eine steigende Anzahl an Menschen bei uns, die sich für eine Veränderung der Lebensweise einsetzt. Gerade bei Jüngeren, deren Zukunft unmittelbar bedroht ist, wächst das Bewusstsein, dass es ein „Weiter so!“ nicht geben kann. Diese Entwicklung gibt Zuversicht und findet hoffentlich möglichst bald auch politische Mehrheiten.

Ergänzend dazu sind folgende Punkte bedenkenswert:

  1. Wir müssen technische Entwicklungen (und zwar jede) unabdingbar und noch viel stärker unter ethischen Aspekten lokal und global betrachten und diskutieren.
  2. Es muss sich das Bewusstsein durchsetzen, dass Arbeit und hergestelltes Produkt moralisch nicht voneinander zu trennen sind. Auch die Arbeit beispielsweise in der Buchhaltung eines Rüstungskonzerns kann moralisch nicht neutral sein, da es das Produkt, das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit nicht ist. Alles andere wäre absurd.
  3. Den Menschen muss – mit den Punkten 1 und 2 zusammenhängend – die Möglichkeit eröffnet werden, ein Gewissen aufzubauen. Bildungsprozesse und Wissen/Erkenntnis in allen Lebenslagen können dabei unmittelbar unterstützen.
  4. Ohne in Fatalismus oder Nihilismus zu verfallen…
  5. …sollten wir die Phantasie entwickeln, was kommen kann. Und dann handeln.

Zum Weiterlesen:

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution und Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1985 und 1986.

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