Unsere Apokalypse-Blindheit.

Nicht erst im laufenden Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021 werden zwei widerstreitende Positionen in ihren Extremen diskutiert: Eine Seite fordert eine radikale Umkehr unserer Lebensweise zur Einhaltung des 1,5 Grad-Klimaziels und damit dem Erhalt des Lebens. Die andere Seite bestreitet, dass es maßgebliche Änderungen in unserem Verhalten geben müsse, würden sich doch technische Lösungen finden lassen, die Folgen der Klimaerwärmung abzufedern und für die Menschheit zumindest erträglich zu gestalten.

Vorab: Ich glaube aus verschiedenen Gründen nicht, dass technische Entwicklungen allein die Lösung sein können, um die Klimakrise zu bewältigen. Wir sollten uns die Technik auch künftig zunutze machen, diese kann jedoch nur ein „auch“, kein „alleine“ bedeuten, gerade, wenn man sich die weltweiten Entwicklungen ansieht. Technische Möglichkeiten, aber auch Grenzen, sind parallel gesamtgesellschaftlich und global unabdingbar zu diskutieren und abzuwägen.

Woher kommt bei vielen Menschen jetzt aber eine unbedingte Technikgläubigkeit und die – letztlich – doch Zuversicht (oder bloße Hoffnung?), auf einer solchen Basis technischer Weiterentwicklung würde alles „gut“ werden können?

Der Philosoph Günther Anders (1902-1992) hat bereits 1956 (!) äußerst hellsichtig den Zusammenhang zwischen unserer Fortschrittsgläubigkeit und einer „Apokalypse-Blindheit“ herausgearbeitet. Jetzt muss man Anders aus seiner Zeit heraus lesen, er war u.a. einer der Begründer der Anti-Atomkraft-Bewegung. Was aber verbirgt sich hinter seiner Theorie und warum können wir die Gedanken Anders‘ dennoch hervorragend in unsere Zeit übertragen?

Die klassische Definition der industriellen Revolutionen zählt folgende Entwicklungsschritte auf dem Weg in unser heutiges, digitales Zeitalter auf: Die Nutzung der Dampfkraft und die Mechanisierung der Produktion, die Elektrifizierung des Lebens und die Fließbandfertigung, die Automatisierung mittels computergesteuerter, speicherbasierter Anwendungen sowie aktuell die Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche.    
Dem setzt Günther Anders seine eigene Definition dreier industrieller Revolutionen gegenüber. Die erste Revolution verortet er in der Tatsache, dass Maschinen es selbst sind, die maschinelle Teile herstellen. Entgegen dem Ergebnis des Handwerkers entsteht so erst am Ende der Produktionskette ein fertiges (Konsum-)Gut. Als zweite industrielle Revolution bezeichnet Anders – und das bereits Mitte der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts! – die Tatsache, dass durch Werbung erst Bedürfnisse und damit auch ein immer Mehr an zu produzierendem Bedarf geschaffen werden. Produktzyklen richten sich demnach nicht mehr nach der technischen Lebensdauer, vielmehr werden einzelne Produkte durch ihre Nachfolger abgelöst, die besser, schneller, noch funktionaler sind und alleine deswegen begehrt werden. Und als dritte industrielle Revolution definiert Anders die Nutzbarmachung der Kernenergie. Namentlich die Atombombe markiert bei Anders eine übergeordnete, nein, DIE übergeordnete Stellung: der Mensch ist seit der Entwicklung der Atombombe in der Lage, sich selbst vollständig auszurotten. Diese Tatsache schwebt seitdem über uns allen, hinter dieses Wissen kommen wir als Menschheit nie mehr zurück. Daher kann es – nach Anders – auch keine weitere industrielle Revolution geben. Mit der Gefahr der totalen Auslöschung haben wir das letzte denkbare Zeitalter erreicht. Die Kernenergie in ihrer absoluten Wirkung kann noch nicht mal mehr Mittel zum Zweck sein – sollten wir uns als Menschheit wirklich ausgerottet haben, gibt es keinerlei Zwecke und auch keine Mittel mehr, diese zu verfolgen:

„[…] anstelle des trostlosen „Es wird gewesen sein“ [würde] das noch trostlosere „Nichts war“ seine von niemandem registrierte und darum gültige Herrschaft antreten.“ (Anders 1985, 245.)

Mit und seit der Atombombe sind wir als Menschheit die „Herren der Apokalypse“ (Anders 1985, 239), jederzeit in der Lage uns vollständig auszulöschen. Gleichzeitig sind wir – so Anders weiter – als Menschheit unfähig zur Angst vor dieser Tatsache und apokalypseblind. Woraus resultieren diese Tatsachen aber?   
Erstens fehlt uns das Vorstellungsvermögen. Weiter als in eine kurzfristige Zukunft können (und wollen) wir nicht denken. Und auch wenn wir wissen, eine Stadt komplett auslöschen zu können, fehlt uns das (bildliche) Vorstellungsvermögen der realen Tatsachen und Auswirkungen dessen. Zweitens klaffen – damit zusammenhängend – das Machen und das Fühlen sowie das Wissen und das Begreifen auseinander. Zwar haben wir Angst vor der eigenen Sterblichkeit, können uns gleichzeitig nicht in die reale Todesangst anderer Menschen, wie die dieser Stadt, einfühlen. Drittens sind wir fortschrittsgläubig. Diese Fortschrittsgläubigkeit definiert sich wiederum über mehrere Aspekte: einmal in der Zuversicht, dass alles immer besser wird und der Neigung des Menschen, alles erlebte und denkbare Schlechte in der Vergangenheit, niemals in der Zukunft zu verorten. Zukunft ist für uns nicht mehr das Kommende, sondern das (technisch) Gemachte. Gleichzeitig haben wir – in post-religiöser Zeit – den Verlust der (absoluten) Höllenangst erlitten. Diese alles übersteigende Angst fehlt uns modernen Menschen.

Fortschrittsgläubigkeit bedingt somit Apokalypse-Blindheit.
Beides verortet Anders im Bereich moralischer Fragen. Es muss – übertragen auf unser eigenes Leben – darum gehen, was des technisch Machbaren wir können, dürfen, sollen und auch wollen. Für sein Handeln kann der Mensch Verantwortung übernehmen. Der moderne, arbeitsteilig und konformistisch organisierte Mensch handelt im Berufsleben jedoch nicht, sondern er tut lediglich. Eine Reflexion über die eigene Arbeit kann in einem solchen bloßen Tun nicht mehr stattfinden, der Mensch überlässt sich der Arbeit, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Damit kann er auch kein Gewissen (mehr) haben. Gleichzeitig gilt dieses Tun als absolut neutral. Im Bereich des Berufslebens gibt es kein gut oder böse, Erwerbsarbeit und Produkt werden getrennt. Egal, wofür das Produkt dann verwendet wird, wofür es steht, was es bedeutet, die Arbeit daran wird als moralisch neutral betrachtet. Und so kann der Mensch in seinem Tun gar kein Gewissen entwickeln.

Welche Parallelen zu heute kann man daraus ziehen, welche der Punkte können auf unsere heutige Situation übertragen werden?   
Wir leben noch immer unter der Bedrohung der Tatsache, dass wir uns als Menschheit atomar ausrotten können. Weder ist ein weltweiter Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie zu erwarten noch eine atomwaffenfreie Welt. Gleichzeitig glauben wir nicht an unsere eigene Vernichtung, sind also apokalypseblind.
Diese Blindheit lässt sich aber ebenso für die Bedrohung durch die menschengemachte globale Erwärmung konstatieren. Allen schon heute negativen Szenarien und Prognosen zum Trotz sind wir zu einer (radikalen) Veränderung unserer Lebensweise nicht bereit. Mit Anders gesprochen fehlt uns das Vorstellungsvermögen, welche realen (!) negativen Auswirkungen auf uns und unsere Kinder warten, wenn die globalen Kipp-Punkte überschritten sind. Und es fehlt wohl auch die Angst davor. Die Erwartung einer besseren Zukunft (die wie selbstverständlich durch Technik besser gemacht wird), unbedingte Fortschrittsgläubigkeit also, lässt viele von uns ruhig schlafen.

Gleichzeitig gibt es eine steigende Anzahl an Menschen bei uns, die sich für eine Veränderung der Lebensweise einsetzt. Gerade bei Jüngeren, deren Zukunft unmittelbar bedroht ist, wächst das Bewusstsein, dass es ein „Weiter so!“ nicht geben kann. Diese Entwicklung gibt Zuversicht und findet hoffentlich möglichst bald auch politische Mehrheiten.

Ergänzend dazu sind folgende Punkte bedenkenswert:

  1. Wir müssen technische Entwicklungen (und zwar jede) unabdingbar und noch viel stärker unter ethischen Aspekten lokal und global betrachten und diskutieren.
  2. Es muss sich das Bewusstsein durchsetzen, dass Arbeit und hergestelltes Produkt moralisch nicht voneinander zu trennen sind. Auch die Arbeit beispielsweise in der Buchhaltung eines Rüstungskonzerns kann moralisch nicht neutral sein, da es das Produkt, das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit nicht ist. Alles andere wäre absurd.
  3. Den Menschen muss – mit den Punkten 1 und 2 zusammenhängend – die Möglichkeit eröffnet werden, ein Gewissen aufzubauen. Bildungsprozesse und Wissen/Erkenntnis in allen Lebenslagen können dabei unmittelbar unterstützen.
  4. Ohne in Fatalismus oder Nihilismus zu verfallen…
  5. …sollten wir die Phantasie entwickeln, was kommen kann. Und dann handeln.

Zum Weiterlesen:

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution und Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1985 und 1986.

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