Richard Wagner: Der Künstler als Philosoph.

Neben seinem großen musikalischen Opus hat Richard Wagner (1813 – 1883) ein auch umfangreiches literarisches Werk hinterlassen. Die Schriften Wagners erstrecken sich von diversen theoretischen Auslassungen zu unterschiedlichen Themen über regen Briefwechsel bis hin zu einer Autobiographie, das Gesamtwerk der theoretischen Schriften allein umfasst in der Originalausgabe zehn umfangreiche Bände. Dabei zeichnet sich Wagner durch mehr oder weniger frei assoziierendes Schreiben aus, er legt uns zumindest keine wissenschaftlichen Arbeiten vor. Dabei wurde er in verschiedenen Phasen seines Lebens von unterschiedlichen Menschen, Philosophen und Denkrichtungen maßgeblich beeinflusst.

Die Theorien, die Wagner aufgestellt hat, waren und sind umstritten – man denke beispielsweise an das „Pamphlet“ Das Judentum in der Musik (1850 unter Pseudonym, 1869 unter eigenem Namen veröffentlicht. Alleine der in dieser Schrift geäußerten – vorsichtig ausgedrückt – bösen Polemik (etwa gegen Giacomo Meyerbeer) stehen durchaus freundschaftliche Beziehungen Wagners zu jüdischen Musikern gegenüber. Auch aus diesem Grund lassen sich drei Themenfelder identifizieren, die Wagner zu seiner abfälligen Schrift veranlasst haben können: Einmal kann man persönliche Motive in der Art und Weise der Verfolgung eigener Ziele konstatieren, und das – zweitens – in einer Phase der Verzweiflung in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal (Exil und wiederkehrende Geldsorgen). Und drittens spielen nicht zuletzt gesellschaftliche Faktoren und Diskussionen der Zeit eine wesentliche Rolle. Und diese waren durchaus antisemitisch geprägt. So hatte Wagner mit dem Anarchisten Michail Bakunin, der als „rabiater Antisemit“ gilt, in den Jahren vor dem Dresdner Mai-Aufstand von 1849 engen Kontakt.

Gerade in der historischen Betrachtung ist zwischen dem Menschen „Richard Wagner“ und dem Musiker, Komponisten und Autor (der zufällig den Namen „Richard Wagner“ getragen hat), zu abstrahieren. Aber gerade aus diesem Grund besteht gleichzeitig die unbedingte Notwendigkeit der historischen Einordnung, um aufzuzeigen, in welcher Zeit, in welchem Kontext und unter welchem Einfluss die Werke und Schriften entstanden sind. Ganz entscheidend ist die Frage, wann Wagner was sagt, da er sich im Zuge seines Lebens diversen Zeitgenossen und Denkern (eben Bakunin, aber auch Ludwig Feuerbach oder GWF Hegel) zu- und abgewandt hat, verschiedene Weltanschauungen übernommen und für sich umgesetzt hat.

Festzuhalten bleibt, dass Wagner mit seiner Kunst, wie ebenso mit seinen Schriften, auch retrospektiv eben im Kontext der Zeit betrachtet werden sollte. Dieser Kontext meint die Stellung der Künstler im 19. Jahrhundert, bezogen auf die Art und Weise des Gelderwerbs (Auftraggeber sind im Wesentlichen die jeweiligen Herrscherhäuser, der Musiker braucht „sein“ Publikum, braucht Anstellungen, Aufführungsorte und Beziehungen). Und diese Tatsachen sind zu betrachten im Kontext der historischen Genese in Gesellschaft, Politik und Umgebung zur Zeit Wagners. Im Fokus stehen im Folgenden dabei auch die tatsächlichen Revolutionen der Zeit. Das Leben Wagners erstreckte sich auf die Jahre 1813 bis 1883 und fiel damit in eine Zeit weitreichender politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. Zeitgenossen Wagners waren – neben den bereits Erwähnten – im philosophischen Bereich etwa auch Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, literarisch beispielsweise Heinrich Heine, in der Musik Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Liszt und Robert Schumann. Portraitzeichnungen und -gemälde mit dem Abbild Wagners sind u.a. überliefert von Auguste Renoir und Adolph von Menzel. Und nicht zuletzt zu nennen ist selbstverständlich König Ludwig II. von Bayern, den man einerseits dem politischen Spektrum zuordnen, andererseits als Auftraggeber für musikalische Werke und Mäzen Wagners nennen muss.

Ohne Auftraggeber, ohne Anstellung und Möglichkeiten, Werke aufzuführen, war ein Leben als Künstler damals nicht finanzierbar. Parallel verdingte Wagner sich in seiner Dresdner Zeit daher – endlich konnte er sich zumindest für einige Jahre niederlassen, bevor er erneut fliehen musste – als Hofkapellmeister und Dirigent, wobei als Auftraggeber (Duplizität der finanziellen Abhängigkeit) wiederum der Herrscher, hier der König von Sachsen) fungierte und die Theater und Musiktheater unter höfischer Verwaltung standen.

Die Lebenszeit Richard Wagners war durch massive Umwälzungen geprägt. So erlebte Wagner die zunehmende Industrialisierung (die sog. „Industrielle Revolution“) mit allen auch negativen Auswirkungen auf die Menschen. Auch die politischen Veränderungen und Unruhen in seiner Zeit waren massiv: Deutscher Bund, der sog. „Deutsche Krieg von 1866“, der in die Gründung des Deutschen Reichs mündete – Wagner erlebte ebenso den polnischen Aufstand von 1830/ 1831, die Juli-Revolution in Paris von 1930, die Zeit des Vormärz, die Märzrevolution und speziell den Dresdner Aufstand sowie – gegen Ende seines Lebens – etwa noch die Pariser Kommune.

Neben der äußeren Umwelt spielte aber auch das innere Erleben Wagners eine maßgebliche Rolle. Zurückkommend auf das ambivalente Verhältnis zu jüdischen Zeitgenossen: Bereits Anfang der 1830er Jahre war Wagner tief verschuldet bei jüdischen Geldverleihern. Neben anderen Motiven kann hier bereits der Grundstein zum Antisemitismus Wagners vermutet werden. Und daher scheint stets das je innere Gefühlsleben, in dem sich Wagner zu bestimmten Zeiten, guten wie schlechten, ausgesetzt sah, ebenfalls eine relevante Rolle bezogen auf die Schriften der verschiedenen Lebensperioden zu spielen, wenngleich wohl heute nie mehr alle Motive Wagners erhellt werden können.

Als Theoretiker beschäftigt er sich mit einer Fülle an Themen, die er inhaltlich oftmals von anderen Denkern entlehnt und in seine Sicht einpasst. Damit erschafft er eine – nämlich seine – Weltanschauung und diese richtet sich je nach Lebensphase, in der er sich befindet. Eine Ambivalenz innerhalb der Schriften und überlieferten Zitaten Wagners muss dann unmittelbar festgestellt werden. Je nach eigenem Erleben stellt Wagner sich und seine Weltanschauungen unterschiedlich dar, als von unterschiedlichen Motiven getrieben, von je anderen inneren und äußeren Zuständen beeinflusst sowie je nachdem, an wen Wagner sich wendet oder mit wem er korrespondiert. Es ist somit notwendig, sich in der Beschäftigung mit Wagners Schriften und damit einhergehend mit seinem musikalischen Werk der Frage zu stellen, in welchem individuell-biographischen, gesamtgesellschaftlichen und rezeptionsgeschichtlichen Kontext Wagner in verschiedenen Phasen seines Lebens jeweils gearbeitet hat. Mit „welchem“ Wagner also beschäftigt man sich, in Zeit, Bezug, Werk und Rezeptionsgeschichte?

Letztlich spiegelt sich diese heterogene Vorgehensweise analog auch in Wagners musikalischen Werk wider: Bestandteile und Struktur des antiken Dramas der griechischen Mythologie, mittelalterlicher Balladen, tatsächlich historischer Persönlichkeiten oder Begebenheiten werden von Wagner vermischt und jeweils zu eigenständigen, dabei abend(über)füllenden Musikdramen zusammengeführt. Mythologie, Psychologie, Erlösungsmotive, Ideologien, biographische Einflüsse oder politisch-soziale Aspekte werden aufgenommen, mittels germanischer und antiker Quellen umgesetzt und schöpferisch in Einheiten transformiert.

Im Mittelpunkt der Schriften stehen Die Kunst und die Revolution von 1849 und Das Kunstwerk der Zukunft von 1849/1850. Das Sujet der Revolution in Richtung der politischen Situation diente Wagner dazu, seine Theorie der Revolution für den künstlerischen Bereich zu formulieren. Diese Revolution, eine Revolution, derer die Künstler – und ganz speziell er selbst – bedurften, um ihre prekäre Situation ansatzweise oder potentiell zu verbessern, zieht Wagner dann heran, um auf sich aufmerksam zu machen. Und gerade die hier diskutierten theoretischen Einflüsse haben dann einen speziellen Reiz auf Wagner in eben dieser Zeit, in diesem (vor-)revolutionären Moment ausgeübt.

Unerlässlich für jede Einordnung der theoretischen Schriften Wagners bleibt somit also die Frage, zu eben welchem Zeitpunkt, unter welchem Einfluss er was gesagt und niedergeschrieben (oder eben auch komponiert) hat. Das musikalische und das theoretisch-verschriftlichte Werk bleiben nebeneinander stehen. Richard Wagner hat in beiden Weltanschauungen produziert, die bis heute nachwirken.
Als Komponist wird Richard Wagner die Zeit in seiner Musik überdauern. Als Denker und Schriftsteller ist sein Werk meines Erachtens allzu heterogen, inkonsistent, zerfranst und unwissenschaftlich, um eine abschließende Beurteilung treffen zu können.


Zum Weiterlesen:

Geck, Martin (2013): Richard Wagner. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch-Verlag.
Gregor-Dellin, Martin (1989): Richard Wagner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert. München: Piper.
Lütteken, Laurenz; Groote, Inga Mai; Wagner, Richard (Hg.) (2012): Wagner Handbuch. Kassel: Bärenreiter Metzler.
Wagner, Richard (2015): Das Kunstwerk der Zukunft. Neusatz durch Michael Holzinger. Createspace.
Wagner, Richard (1975): Die Kunst und die Revolution. München: Rogner Bernhard.

(Bildcredits: KI via starryai.)

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Demokratie- oder Kapitalismusverdrossenheit?

Die Herrschaftsorganisation der Demokratie (griechisch: die Herrschaft des Volks) als Konzept ist schon sehr alt und geht – wie so viele ideengeschichtliche Konzepte – wesentlich auf die Philosophen des antiken Griechenlands (Platon, Aristoteles) zurück. In (vor-)moderner, zumindest aber noch vor-aufklärerischer Zeit hat der englische Philosoph John Locke (1632-1704) dann unser bis heute vorherrschendes Demokratieverständnis begründet. Locke definierte die Gewaltenteilung, ebenso aber die Pflicht einer jeden Regierung, Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger:innen zu schützen, als konstitutiv für eine Demokratie. In unserem westlichen Kulturkreis haben sich diese Gedanken der sog. liberalen Demokratie verfestigt, gekennzeichnet durch unabdingbare Menschenrechte (Gleichheit, Freiheit) sowie freie und geheime Wahlen, Orte der freien politischen Diskussion (Parlamente) oder auch die Gewaltenteilung und das Vorhandensein einer Opposition.

Aktuell hören und lesen wir vielfach die Diagnose und es wird öffentlich darüber diskutiert, die Menschen seien „demokratieverdrossen“ oder „demokratiemüde“. Gestützt wird diese These gerne durch den Hinweis auf sinkende Wahlbeteiligungen und durch Umfrageergebnisse. So ergaben die Erhebungen der Robert Bosch Stiftung gemeinsam mit dem Think-Tank More in Common im Jahr 2020 etwa die Ergebnisse, dass zwar 93 % der Befragten die Idee der Demokratie nach wie vor als wichtig und richtig erachten und es 94 % gerne in einer Demokratie leben. Das alleine stützt die These einer Demokratieverdrossenheit noch nicht. In eben dieser Umfrage wurde gleichzeitig jedoch der Wunsch artikuliert, im Zweifel einen starken Führer (sic!) zu haben, der im Notfall die Herrschaft hat und allein entscheiden kann (immerhin 21 % der Befragten votierten so). Dass viele Menschen offen die verfassungsfeindliche und damit als demokratiefeindlich einzustufende Alternative für Deutschland (AfD) wählen und deren Thesen befürworten, wird oftmals als weiteres Indiz dafür angeführt, dass demokratische Grundgedanken in den Hintergrund treten. Einer Umfrage des Magazins „Der Spiegel“ im Jahr 2022 zufolge zeigen sich junge Menschen zudem oftmals zumindest demokratieskeptisch, weil sie sich von der Politik nicht wahrgenommen fühlen. Dieser Wert ist wohl allem wohl den Maßnahmen in der Hochphase der Corona-Pandemie in den Jahren 2019-2022 geschuldet.

Auch auf diesen empirischen Beobachtungen aufbauend möchte ich hier eine These zur Diskussion stellen: Ich denke nicht, dass die Menschen wirklich demokratieverdrossen sind, ich denke die Menschen sind vielmehr kapitalismusverdrossen. Um diese These zu stützen liefere ich nachstehend einerseits eine normative Erklärung, die ich andererseits mit empirischen Beobachtungen und Entwicklungen zu unterstützen suche.

Meine normative Argumentation lautet: Die Demokratie in unserer heutigen Zeit stellt nicht mehr oberstes Ziel und Zweck des Zusammenlebens dar, sie dient damit nicht mehr vordringlich dem oben genannten Schutz der Bürger:innen. Vielmehr ist die Demokratie in weiten Teilen zum bloßen Mittel verkommen, den Kapitalismus zu schützen und als Zweck zu bewahren.

Eine weit verbreitete Meinung (und ich bezeichne das ausdrücklich als Meinung), ist es, mehr Markt sei immer gut. Historisch gesehen hat die Angst des Westens vor dem Kommunismus dazu geführt, die Soziale Marktwirtschaft zu begründen. Gerade weil das Programm des Kapitalismus die absolute Freiheit des Einzelnen betonte und das sozialistische System die Solidarität mit anderen, sah man sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD genötigt, sich das Feigenblatt des sog. „Sozialdemokratischen Kompromisses“ (Ralf  Dahrendorf) anzuheften. Soziale Zugeständnisse an die Bevölkerung sorgten trotz jeder kapitalistischen Ausrichtung in der Wirtschaftswunderzeit nicht zuletzt für Wahlerfolge. 1989 obsiegte der Kapitalismus, wiewohl er ebenso, wie der Kommunismus ein „metaphysisches Glaubenssystem“ (Peter Ulrich) darstellt, das als bloße Überzeugung an der Wirklichkeit scheitern kann. (Die VR China macht uns aktuell zum Beispiel auch vor, wie man Staatskommunismus mit Kapitalismus bestens verbinden kann.) Die Marktwirtschaft selbst ist dabei ein bloßes rechtsstaatliches Konstrukt, das Regeln und Gesetzen unterliegt.

Verbunden ist dieses Verständnis damit, was wir als liberale (Wirtschafts-)Politik bezeichnen. Dabei ist jedoch zu unterscheiden zwischen einem alt-liberalen Verständnis und einem neo-liberalen Verständnis (wie es heute vielfach vorherrscht): Altliberalismus meint dabei die Voraussetzung einer wohlgeordneten (demokratischen) Gesellschaft und soziale Harmonie, auf deren Grundfesten sich eine freie Marktwirtschaft zum Wohle aller erst entfalten kann. Die Rahmenbedingungen dafür gibt der Staat vor. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen leitet – unter Berufung auf den schottischen Moralphilosophen Adam Smith (1723-1790) – die „unsichtbare Hand“ dann die Marktkräfte, was zu einer Mehrung des Gemeinwohls führt. Der Neoliberalismus pervertiert diese Idee und missbraucht Adam Smith mit seiner „invisible hand“ argumentativ bis heute. Die Idee des Neoliberalismus propagiert dabei den umgekehrten Weg, nämlich die Idee, dass ein staatlich möglichst ungeregelter Markt, auch in Form nur rudimentär vorhandener Sozialpolitik im Übrigen (die „invisible hand“ wird an dieser Stelle im Diskurs definitorisch angesetzt, was nicht dem Grundgedanken Adam Smiths entspricht), zu steigendem Wohlstand und damit dann erst zu einer wohlgeordneten Gesellschaft und sozialer Harmonie führen würde. Als Norm wird daher im Neoliberalismus nicht die wohlgeordnete Gesellschaft (also eine plurale, freie und sozial gefestigte) Gesellschaft angesehen, die Norm in Neoliberalismus ist der freie, ungeregelte Markt. Eine Annahme, die sich nicht nur ethisch, sondern gerade auch praktisch im Turbo-Kapitalismus unserer Zeit regional, aber auch global nicht halten lässt. Hierzu brauchen wir nur die sozialen Verwerfungen, das Steigen von Ungleichheit, Tatsachen struktureller Armut, von Kinderarbeit, Korruption oder auch ganz konkret die wiederkehrenden Finanzkrisen usw., betrachten. Totale Marktwirtschaft und Kapitalismus (zumal ungeregelter Kapitalismus) führen zu einem „ökonomischen Zirkel“ (Peter Ulrich) und damit zwangsläufig zu Ungleichheiten. Und ganz ursprünglich gesehen: Im Zuge der Industriellen Revolution, also einer Phase uneingeschränkten Kapitalismus, wurde die Armut für alle gerade nicht beseitigt, vielmehr entstand ganz andere, neue Armut trotz Arbeit, bei unfassbarer Gewinnmaximierung der „Kapitalisten“. Beobachtungen, die wir heute auf die global betrachtetet Industrialisierung wiederum anwenden können.

Diverse empirische Beobachtungen möchte ich heranziehen, um meine Argumentation  zu untermauern. So bereichern sich nicht nur (auch demokratisch gewählte) Politiker:innen weltweit persönlich; es wird zu selten auch für Transparenz gesorgt, wie politische Entscheidungen zustande gekommen sind und wie dem grassierenden Lobbyismus neoliberalen Verständnisses begegnet wird. Selbst die bloße Einführung eines einfachen Lobbyregisters (welche:r Abgeordnete hat sich mit welchem Lobbyverband wann getroffen) scheiterte in Deutschland lange vor allem am Widerstand von CDU/CSU. (Ironischerweise wurde dieser Widerstand dann aufgegeben, nachdem es bei Abgeordneten eben dieser Fraktionen, namentlich etwa bei Philipp Amthor, Georg Nüßlein, Nikolas Löbel, Mark Hauptmann oder Alfred Sauter zu Affären rund um Lobbyismus und Korruption gekommen war).

Vor dem Hintergrund einer vorgeblichen und propagierten Steigerung des Gemeinwohls steckt hinter vielen Gesetzen und Vorhaben tatsächlich oftmals nur die Vorteilserwartung weniger. Den Benkos und Bankern dieser Welt wird trotz den Erfahrungen mit anderen Immobilien-Pleitiers und Pleite-Banken auch seitens der Politik nur allzu gerne allzu viel Steuergeld hinterhergetragen. Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung steigt weiter an (die sog. soziale Schere geht immer weiter auseinander). Ein Zusammenhang, den nicht zuletzt die ungleiche Besteuerung von Arbeit und Kapital stetig befeuert. Während der eigenen Hände Arbeit mit einem Spitzensteuersatz von aktuell bis zu 42 % besteuert wird, gilt für Kapitalerträge egal bis zu welcher Höhe der Abgeltungssteuersatz von 25 %. Eine Regelung, die übrigens unter der rot-grünen Regierung und unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler (Gerhard Schröder) eingeführt wurde. Gleichzeitig wird der Sozialstaat immer weiter zurückgedrängt, Armut und Migration werden auch seitens der Politik gegeneinander ausgespielt. Daneben werden (klima-)schädliche Subventionen nicht abgeschafft, was zu einer verfestigen Externalisierung und Vergesellschaftlichung von Kosten (zum Beispiel für das Gesundheitswesen im Rahmen des Klimawandels) bei gleichzeitiger privatwirtschaftlicher Maximierung der Unternehmensgewinne führt. Besonders negativ in Erscheinung getreten ist beispielsweise auch die FDP mit der seinerzeit so genannten „Mövenpick-Steuer“, also einer Steuererleichterung für Hoteliers, was sogar das an sich konservative Handelsblatt veranlasste von einem „Steuergeschenk“ zu schreiben. Warum hier die Aufgabe der Steigerung des Gemeinwohls auf der Strecke geblieben ist, mag niemand recht beantworten können. Umso schlimmer, falls doch.

Diese Beispiele sollen ausreichen, um zu verdeutlichen, dass es verständlich scheint, wenn  Menschen sich hier innerlich abwenden und ein solches Demokratieverständnis zunehmend nicht mehr teilen. (Was es keineswegs legitimiert, deswegen eine rechtsradikale und demokratiefeindliche Partei zu wählen).

Demokratie wird  – und diese These habe ich versucht, zu untermauern – vielfach nur noch als Mittel zum Zweck der (neoliberalen) Gewinnmaximierung für Wenige verstanden. Die Politik sollte sich daher wieder stärker darauf konzentrieren, den Schutz des Lebens, der Freiheit und des Eigentums aller Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht nur das Wohl weniger. Ordnungspolitische Rahmenbedingungen geben Struktur und innerhalb dieser Rahmenbedingungen ist unternehmersicher Erfolg selbstverständlich möglich und muss es auch bleiben. In einer sozialen Marktwirtschaft, als die wir uns bezeichnen, bleiben die Schaffung und Bewahrung sozialer Wohlfahrt und sozialen Friedens sich wechselseitig mit unternehmerischem Erfolg ergänzend jedoch unabdingbar. In diesem republikanischen Bürgersinne als gute Bürger:innen zu handeln, für die Demokratie und deren Weiterentwicklung zu kämpfen, zum Wohl aller Menschen und jede:r in jeder sozialen Rolle (Privatleben, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft), ist unabdingbar, das Vertrauen in unsere demokratisch verfasste Grundordnung nicht weiter erodieren zu lassen.

Zum Weiterlesen:

Gertrud Brücher zeigt in ihrer großartigen Monographie „Pazifismus als Diskurs“ (Wiesbaden 2008) eindrücklich auf, wie sich der von mir skizzierte Zusammenhang spezifisch auf (internationale) Pazifismusdiskussionen auswirkt. Der reale Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus führt dazu, dass das westliche Modell sich ständig selbst rechtfertigen muss, da der Antagonist „Kommunismus“ und die Selbstvergewisserung über die Abgrenzung seither fehlt. Gerade daher sich muss das kapitalistische Modell dann auch mit kriegerischen Mitteln, oftmals unter den Deckmäntelchen der Verteidigung von Menschenrechten und unseres westlichen Werteverständnisses und Menschenbilds, selbst verteidigen. Dass sich auch dahinter vielfach bloß reiner kapitalistischer Eigennutzen (Öl, Absatzmärkte) verbirgt, verdeutlicht das Beispiel des verlogenen und letztlich gar völkerrechtswidrigen Irakkriegs der USA unter George W. Bush.

Wichtige Grundgedanken des Schweizer Wirtschaftsethikers Peter Ulrich auch zu den von mir skizzierten Themen lassen sich gut und kompakt hier nachhören: Wirtschaft und Gesellschaft – Aus einem Grundsatzgespräch mit Peter Ulrich – YouTube.

Die Grundzüge der Argumentation meines Beitrags habe ich auch im Rahmen der „Philosophischen Stunde des VPU – Verband für Philosophie und Unternehmensberatung präsentiert. Der Mitschnitt des kurzes Impulsvortrags findet sich ebenfalls auf YouTube: Philosophische Stunde Februar 2024: Demokratie- oder Kapitalismusverdrossenheit? (youtube.com)

Das Beitragsbild stammt von Tom Toro, gefunden auf Facebook.

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Darf sich die Schweiz aus dem Pariser Klima-Abkommen freikaufen?

Die Schweiz lagert in großem Stil Maßnahmen an ärmere Länder aus, um die im Pariser Abkommen festgelegte CO2-Reduktion nicht im eigenen Lande umsetzen zu müssen, dennoch die vereinbarten Ziele zu erreichen. Rechtlich ist das möglich (Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens), moralisch aber vollkommen fragwürdig. Ausgelagert (und bezahlt) werden Maßnahmen u.a. nach Ghana, Peru, in den Senegal oder nach Vanatu, und damit in Länder, die (erwartungsgemäß) künftig noch stärker unter dem Klimawandel leiden werden als das, was wir den „globalen Norden“ nennen. Ungleich stärker somit als die Schweiz, die gleichzeitig aber für einen viel höheren CO2-Ausstoß sorgt als die Länder, die für die Schweiz CO2 sparen sollen.

Gleichen wir dieses Verhalten doch mal ab mit verschiedenen ethischen Strömungen und deren Prämissen:

  • Tugendethik: Ein solches Handeln kann nicht tugendhaft sein und zu einem gelungenen Leben führen im Sinne dessen, was ursprünglich der Philosoph Aristoteles damit im Sinn hatte. Welche Tugend sollte mit einem solche Handeln auch einhergehen? Das Maß, die rechte Mitte also wird hier in keiner Weise gefunden.
  • Pflichtethik: Nach Immanuel Kant geht es stets um das Gesollte. Der Zweck heiligt niemals die Mittel, vielmehr müssen die Mittel der inneren Instanz („Was soll ich tun?“) standhalten. Gleichzeitig müssen Handlungen dabei der allgemeinen Vernunft standhalten. Wenn alle Staaten jedoch handeln würden, wie die Schweiz, könn(t)en wir das Pariser Abkommen unmittelbar beerdigen.
  • Fürsorgeethik: Fürsorgliches Handeln umfasst diverse Aspekte, wie die Tugend und die Vernunft, aber auch die Nächstenliebe, die Übernahme von Verantwortung oder den Wunsch nach einem guten Leben. Und diese Fürsorge kann in einer globalisierten Welt nicht auf nationales Wohl, einen nationalen Gedanken begrenzt bleiben.
  • Allein im utilitaristischen Gedankengut kann man Begründungsansätze finden, die das Verhalten der Schweiz in Ansätzen rechtfertigen; wenn (!) der CO2-Ausstoß auch durch die Auslagerungsmaßnahmen weltweit sinkt, ist ein Nutzen vorhaben und die Menschen in den Ländern, in die der Klimaschutz ausgelagert wird, profitieren in Teilen (und zumindest aktuell) von den Investitionen des „globalen Nordens“.

Im Zusammenhang ist diese fragwürdige (wie schon gesagt rechtlich durchaus zulässige) Praxis in Verbindung mit weiteren Fragestellungen zu beurteilen: dazu gehören neben den Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft lokal und global Gerechtigkeitsaspekte oder auch die Normen, nach denen Menschen in Politik, aber auch in der Wirtschaft entscheiden.

Die Frage bleibt also bestehen: Darf sich die Schweiz aus dem Parier Klimaabkommen freikaufen? Ich denke nein, da die Nutzung dieser Möglichkeit jede Bemühung zum Klimaschutz konterkariert. Die Schweiz hatte sich sogar erheblich für die Einführung des genannten Artikel 6 des Pariser Abkommens eingesetzt, und somit von Anfang an nicht global tugendethisch, deontologisch oder fürsorglich gedacht. Und zukunftsfähig ist dieses Handel in keiner Weise.

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Zum Weiterlesen:

Ein interessanter Artikel zum beschrieben Sachverhalt erschien unter der Überschrift „Saubere Bilanz“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe 32/2023.

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Kognitive Dissonanz und Umweltbewusstsein.

Menschliches Handeln ist oftmals paradox – so erkennen wir zwar theoretisch und grundsätzlich meist, was richtig und – in einem moralischen Sinne – gut wäre, richten unsere Entscheidungen und Handlungen in der Praxis aber nicht danach aus. Ein Beispiel dafür ist unser Umgang mit der sog. Klimakrise, also der durch den Menschen beschleunigten Erderwärmung. Die irreversiblen Kippunkte der Atmosphäre, an denen eine Entwicklung mit erheblichen negativen Auswirkungen und Folgen für unser Leben schon heute spürbar ist und erwartungsgemäß künftig unausweichlich wird, rücken bedrohlich nahe.
Umweltministerium und Umweltbundesamt erheben seit 1996 alle zwei Jahre in einer repräsentativen Umfrage, was die Bundesbüger:innen im Rahmen des Zustands der Umwelt und bezogen auf das eigene umweltbewusste Verhalten beschäftigt (vgl. Umweltbewusstsein und Umweltverhalten | Umweltbundesamt). Die Wichtigkeit des Themas „Klima- und Umweltschutz“ ist in der letzten Umfrage von 2022 zwar hinter andere, auch aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen (wie etwa die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs) zurückgetreten und hat leicht an Bedeutung verloren. Dennoch taucht das Thema nach wie vor in den Top 5 der wichtigsten Themen auf und wird von 57 % als „sehr wichtig“ eingestuft. Die überwiegende Mehrheit der Befragten fordert darüber hinaus von „der“ (abstrakt gesprochen) „Politik“, dass klima- und umweltschutzbezogene Aspekte in den Entscheidungen eine weitaus größere Rolle spielen sollten als bisher. Das persönliche Verantwortungsgefühl für diese Entwicklungen ist im Zeitverlauf der Befragung dabei gleichzeitig jedoch zurückgegangen. Und gerade im individuellen Konsumverhalten schlagen sich diese Erkenntnisse parallel nicht oder nur teilweise nieder und das schon bei relativ wenig aufwendig umzusetzenden Maßnahmen. So gaben etwa lediglich 46 % der Befragten an, Ökostrom  zu beziehen und gar nur 30 % machten den Elektrogerätekauf für den eigenen Haushalt von der angegebenen Energieeffizienzklasse der Angebote abhängig.

Wie lässt sich jetzt aber diese Diskrepanz zwischen erkannter Bedeutung und dem  Wunsch nach mehr Klimaschutz einerseits und dem eigenen, oftmals in diesem Sinne nicht nachhaltigen Handeln andererseits erklären?  
Ein Grund liegt sicherlich in den Zwängen und Strukturen, die uns umgeben. Wir sind in eine Wirklichkeit hineingeboren, die sich im kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, technischen, globalen usw. Umfeld dahin entwickelt hat, wo wir heute stehen und die sich stetig weiterentwickelt. Die Wirkung individueller Handlungen ist für die/den Einzelne:n oft nicht spürbar und Veränderungen benötigen entsprechend kollektiv anerkannte und durchzusetzende Rahmenbedingungen. In unserer Demokratie ist eine Möglichkeit dessen, das eigene Wahlverhalten entsprechend anzupassen und „der Politik“ damit den entsprechend der Wahlprogramme legitimierten Auftrag zu erteilen. Die aktuellen Entwicklungen diesbezüglich lassen aber wiederum die schon beschriebene Diskrepanz zwischen Wunsch (Klimaschutz) und Wirklichkeit (sinkende Zustimmungswerte und Wahlergebnisse für „grüne“ Themen, vgl. etwa die Landtagswahlen in Bayern und Hessen 2023) erkennen.

Neben der bestehenden externen gesellschaftlichen und politischen Situation kommt daher ein weiterer (interner, psychologischer) Grund zum Tragen, nämlich das, was in der Psychologie als Kognitive Dissonanz bezeichnet wird. Menschen empfinden Situationen, Informationen oder Entwicklungen als unangenehm – wie beispielsweise eben die bereits heute erheblichen, erleb- und spürbaren Auswirkungen der Klimakrise. Gefangen in diesem Gefühl sind viele Menschen bestrebt, diese Dissonanz aktiv zu verdrängen, zu vermeiden oder zu reduzieren, um in einen Zustand innerer „Konsonanz“ (Festinger 1957/1981, 16) zu kommen. Trotz besseren Wissens tragen somit auch empfundene Hilflosigkeit und das Gefühl, einer Situation sowie externem Druck ausgeliefert zu sein, zu den genannten Verdrängungsmechanismen bei. Neben der subjektiv-individuell verständlichen inneren Entlastungsfunktion, die damit einhergeht, führt die Kognitive Dissonanz kollektiv aber zu Fehlentwicklungen und Zuständen, die gerade nicht zukunftsfähig und in diesem Sinne nicht moralisch „gut“ sind. Unbewusste Gründe, die innerlich einer Änderung des bewussten Verhaltens entgegenstehen, liegen (1) in der Angst vor Verlust begründet, zum Beispiel bezogen auf den Verlust des Lebensstandards oder des Wunsches der Beibehaltung eingeübter Muster, (2) der Unlust, sich mit Alternativen, wie  Ökostromangeboten zu beschäftigen und auch (sich selbst) Fehler einzugestehen, oder (3) schlicht in der Unmöglichkeit der Veränderung – zum Beispiel im Rahmen von bestehenden Pathologien oder fehlender Willenskraft (vgl. Festinger 1957/1981, 39f.).

Wie lässt sich dem Tatbestand der Kognitiven Dissonanz mit allen geschilderten negativen Auswirkungen jedoch entgegenarbeiten? Hier bietet die Moralpsychologie in der Verbindung psychologischer und ethischer Aspekte einen  Lösungsweg an. Die Stärke dieses Lösungswegs macht die wechselseitige Verbundenheit individueller und kollektiver Bedürfnisse, aber auch Anforderungen aus. Interne Hürden der Verhaltensänderung von Menschen finden ebenso Eingang, wie externe Zwänge, die uns im Leben und in unseren Handlungen beschränken. Dabei sind diese Veränderungsprozesse überwiegend langfristig zu betrachten – umso wichtiger, dass wir hier endlich aktiv werden, denken wir an die aktuelle, stetig bedrohlicher werdende Situation bezogen auf die Klimakrise.

Um Verhaltensänderungen umzusetzen, werden Motivation sowie Volition benötigt. Menschen müssen motiviert sein, ihre Handlungen nachhaltiger auszurichten und gleichzeitig innere Hürden und externe Zwänge in der Umsetzung volitional, damit willentlich, zu überwinden. Im Rahmen der Motivation geht es um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Darüber hinaus wird in der modernen Motivationsforschung die These vertreten, dass Menschen gleichzeitig soziale Eingebundenheit spüren müssen, um sich tatsächlich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Erst in der Bezogenheit auf andere Individuen kann sich somit die Erkenntnis durchsetzen, dass, und vor allem warum, bestimmte Handlungen als wichtiger und richtiger erachtet werden als andere. Als Gesellschaft und als Individuum sind wir uns jetzt ja bereits durchaus bewusst, dass – um bei einem oben genannten Beispiel zu bleiben – energieeffiziente Hausgeräte sinnvoller sind als Geräte mit hohem Stromverbrauch. Um diese Erkenntnis aber in konkrete Handlungen umzusetzen, müssen Menschen erkennen, dass diese individuelle Handlung als kollektiv sinnvoll anerkannt und respektiert ist, und dass damit höhere, sinnstiftende Ziele (also zum Beispiel ein Beitrag zur Reduzierung von CO2 in der Atmosphäre zum Schutz von Leben) verfolgt werden. Dadurch kann die Motivation steigen, sich in diesem Sinne umweltbewusst zu verhalten und Hürden in der Umsetzung im Anschluss daran willentlich, bewusst also, zu überwinden.

Die Rahmenbedingungen dafür müssen seitens der Gesellschaft und der politische  Entscheidungsträger geschaffen werden; die Gesellschaft selbst wird dabei ja wiederum durch jede:n Einzelne:n von uns erst gebildet, die politischen Würdenträger von jeder/jedem Einzelnen von uns gewählt. Somit wird die wechselseitige Verwobenheit deutlich und die Tatsache, warum es sich bei einer solchen Entwicklung um einen (langwierigen) Prozess handelt: gesellschaftliche Anerkennung bestimmter Verhaltensweisen und die sukzessive Änderung individuell eingeübter Muster und Verhaltensweisen gehen Hand in Hand, ergänzen und bedingen sich gegenseitig.

Bildungsprozesse helfen dabei, erkannte Veränderungsnotwendigkeiten aktiv zu gestalten. Im Wissen um Zusammenhänge können wir zur Erkenntnis gelangen, dass bestimmte (zum Beispiel nachhaltige) Verhaltensweisen besser sind als andere – und das durchaus in einem moralischen Sinne. Je mehr Menschen diese Erkenntnis gewinnen, umso eher werden sich die gesellschaftlichen und damit auch die politischen Prozesse verändern. Welches Verhalten, welche Entscheidung dann als „besser“ zu verstehen sind, bleibt Bestandteil der gesellschaftlichen Diskussionen. Ein Wert, der unabhängig der aktuellen Entwicklungen dabei eine große Rolle für Entscheidungen und im Rahmen der Diskussionen spielt, ist der der Generationengerechtigkeit. Das Ziel eines jeden Menschen und in jeder Generation sollte es sein, über den Wunsch einer zufriedenstellenden eigenen Situation hinaus, auch den Kindern und Enkeln eine lebenswerte Zukunft auf dieser Erde zu erhalten.

(Moralische) Bildung, das Wissen um Zusammenhänge und Notwendigkeiten sowie das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen (Gesellschaft, Zukunft) zu sein, kann Menschen dabei unterstützen, als unangenehm empfundene Situationen (Dissonanzen) auszuhalten. Und diese Punkte können ergänzend dazu führen, die Motivation zu fördern, bewusst gegen diese inneren, aber auch gegen äußere Widerstände anzukämpfen.

Die Rahmenbedingungen dazu sind seitens der Gesellschaft und der Politik zu schaffen. So wird aus der Wissenschaft und in der Forschung etwa die Notwendigkeit einer „sozial-ökologischen Transformation“ propagiert. Die soziale Komponente, damit die Schaffung sozialen Ausgleichs für im weitesten Sinne benachteiligte Menschen und Personengruppen lokal und global ist die Aufgabe, nicht zuletzt wiederum, um die Akzeptanz erkannter Notwendigkeiten im Rahmen von Verhaltensänderungen zu stärken. Somit liegt eine große Verantwortung bei den (gewählten) Entscheidungsträgern in Politik, aber auch in Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – ohne, dass wir uns als Menschen, Bürger:innen und Wähler:innen letztendlich von unserer eigenen Verantwortung freisprechen können.

Zum Weiterlesen:

Das Standardwerk zum Thema der Kognitiven Dissonanz stammt von Leon Festinger (1957/1978): Theorie der kognitiven Dissonanz. Liebefeld-Bern: Verlag Hans Huber.

Andreas Püttmann (2009): Kognitive Dissonanz. Über unsere verderbliche Neigung, die Kenntnisname von Wirklichkeiten zu verweigern“, in: Die Politische Meinung, Nr. 480, S. 74-76. Der Autor greift weitere (aktuelle) Beispiele auf, inwiefern Wunsch und Wirklichkeit oftmals erheblich auseinanderklaffen.

Die wissenschaftliche Forderung einer sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft lässt sich gut hier nachlesen: Johannes Wallacher (2021): Wie die sozial-ökologische Transformation gelingen kann. In: Stimmen der Zeit 8/2021.
Wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann | Stimmen der Zeit (herder.de)

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Alles Ideologie – oder was?

Der Vorwurf an andere, bestimmte Positionen aus rein ideologischen Gründen zu vertreten, ist in der politischen Diskussion an der Tagesordnung. Aber was verbirgt sich genau hinter dem Begriff der Ideologie?

In der politischen Debatte taucht wiederkehrend der Vorwurf auf, bestimmte Positionen würden „nur aus ideologischen Gründen“ vertreten und verteidigt. So befand der Bayerische Ministerpräsident Söder (CSU) beispielsweise, dass Deutschland die umstrittenen Möglichkeit des Frackings (also des hydraulischen Aufbrechens tiefer Gesteinsschichten zur Gewinnung fossiler Energieträger) nicht aus ideologischen Gründen ablehnen bzw. an ideologischen Grenzen scheitern lassen sollte. Energie – München – Söder: Fracking in Deutschland ergebnisoffen prüfen – Bayern – SZ.de (sueddeutsche.de)  
Der Phalanx derer, die aus guten Gründen für den Atomausstieg gekämpft, diesen beschlossen und/oder durchgesetzt haben, wird – meist auf Basis kurzfristig aktueller energiepolitischer Entwicklungen – wiederkehrend das Attribut attestiert, aus rein ideologischen Gründen gegen die Energie aus Atomkraft zu sein. CDU debattiert über Atomkraft – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)         
Und ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen (das überparteilich als sinnvoll, nach objektiven wissenschaftlichen Kriterien als nützlich, gewinnbringend, klimaschonend und lebensrettend sowie von einer Mehrheit der Bevölkerung als mitgetragen gilt) lehnte zuletzt Christian Lindner (FDP) ab, da es reine – genau – Ideologie sei. Parteien – Duisburg – Tempolimit und Fleisch: Lindner gegen Diskussion in Krise – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)

Der Begriff der Ideologie wird in der politischen Diskussion also wiederkehrend eingesetzt und das in nahezu allen Fällen, um den politischen Gegner zu diskreditieren. Unterschwellig oder auch ausdrücklich postuliert schwingt immer mit, dass derjenige, der aus „rein ideologischen“ Gründen für oder gegen etwas ist, wahlweise den Fortschritt bremst, die Freiheit des Einzelnen einschränken möchte oder sich vermeintlich objektiv zu verstehenden Begründungen verweigere. Es lässt sich beobachten, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung meist das, was ökonomischen Interessen und damit unserer gegebenen Wirtschaftsordnung zuwiderläuft, als ideologisch im negativ verstandenen Sinne gebrandmarkt wird. Das impliziert, unsere Wirtschaftsordnung selbst wäre gerade keine Ideologie – eine Annahme, die wohl mit keiner der Bedeutungen des Begriffs in Übereinstimmung zu bringen ist, wie wir weiter unten sehen werden.

Aber ist ein solcher Vorwurf haltbar und überhaupt sinnvoll? Ist eine ideologisch geprägte Entscheidung tatsächlich etwas Schlechtes? Kann der Mensch ideologiefrei entscheiden, wenn es beispielsweise um Zukunftsfragen oder wesentliche Lebensentscheidungen ganz allgemein geht? Wie verhält es sich überhaupt mit dem Begriff der Ideologie? Höchste Zeit also, hier einmal hinter die Kulissen zu blicken!

Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet Ideologie schlicht „Ideenlehre“ (idea = Idee, logos = Lehre). Bereits auf Platon (428/427 bis 348/347 v. Chr.) geht die Erkenntnis zurück, dass Ideen nicht mittels reiner Wahrnehmung, sondern nur durch das Denken des Menschen erfasst werden können. Während wir also Dinge, wie zum Beispiel einen Wasserfall oder eine Treppe, durch das Anschauen wahrnehmen können, müssen wir eine Denkleistung erbringen, was ein Wasserfall (etwas Schönes, etwas Wasserspendendes, aber unter Umständen auch etwas Gefährliches) oder eine Treppe (etwas sehr Praktisches) sind, um eine Idee davon zu gewinnen. Genauso verhält es sich mit abstrakten Sachverhalten, wie zum Beispiel der Schönheit. Welcher Idee von Schönheit und Ästhetik hängen wir an, wenn wir jemanden oder etwas, einen Wasserfall zum Beispiel oder eine schwungvoll gestaltete Treppe, als schön ansehen? Aber auch ethische Sachverhalte sind durch uns Menschen erst wahrzunehmen, zu beurteilen und anzuwenden, insofern sie einer Idee unterliegen. Platon zufolge ist die Idee des Guten der Maßstab, an dem das Tun dann ausgerichtet werden muss, will man moralisch handeln.

Soweit die antike Idee Platons, was die Ideologie, also die Ideenlehre betrifft. Der moderne Ideologiebegriff, der unser heutiges Zusammenleben prägt, ist dreifach zu unterscheiden: (1) In den wissenstheoretischen Begriff: Erfasst werden Gruppen von Erkenntnissen, Kategorien oder auch Werten und damit ist die Basis geschaffen für Entscheidungen auf Grundlage dieser, auf (möglichst) wissenschaftlichen Kriterien beruhenden, sich entwickelten und weiterentwickelnden Erkenntnissen, Kategorien und Werten. Zudem (2) zurückgehend auf Francis Bacon (1561-1626) in den Begriff, wie wir ihn heute mehrheitlich und alltagssprachlich verstehen und wie er in der politischen Diskussion meist verwendet wird: als Weltanschauung nämlich, die bloßen Vorurteilen und Täuschungen unterliegt. Und (3) darauf aufbauend als spezifisch instrumentalisierend eingesetzten Begriff: dieser soll in der politischen Diskussion dem Umstand dienen, die eigene Machtbasis zu sichern sowie wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Karl Marx (1818-1883) hat den Begriff in diesem Zusammenhang so definiert, dass die bürgerliche Klasse ihre Vorherrschaft sichern möchte, und zwar auf Basis ihrer eigenen partikulären ökonomischen Interessen, die für allgemeingültig erklärt werden. Wahre philosophische, soziale, politische Erkenntnis der Ideen (vergleiche Platon), auch wahre Erkenntnis der gesellschaftlich-sozialen Strukturen ist auf dieser Basis nicht möglich, da diese Erkenntnis stets den eigenen Machtanspruch, aber auch die eigenen ökonomischen Interessen in Frage stellen würde. Der Status quo soll verteidigt werden.

Interessant ist, dass Karl Marx bereits im 19. Jahrhundert den Zusammenhang hergestellt hat, der bis heute aktuell scheint: gefangen in ihren eigenen Ideologien des Machterhalts und der ökonomischen Interessen stammt der Vorwurf der Ideologie an andere meist aus dem Spektrum der klassisch als bürgerlich zu bezeichnenden Parteien, wie die oben ausgeführten Beispiele (CSU, CDU, FDP) exemplarisch verdeutlichen. Als ob der Vorwurf der Ideologie an andere prophylaktisch verhindern könne, selbst dem Ideologievorwurf ausgesetzt zu sein oder ausgesetzt zu werden.

Kommen wir damit nochmals zurück auf die eingangs erwähnten Beispiele, in denen Anderswissenden der Ideologie-Vorwurf gemacht wird. Fracking ist eine technische Möglichkeit, fossile Energieträger zu gewinnen, widerspricht aber nicht nur der Notwendigkeit einer Energiewende hin zu nachhaltigen Formen, sondern damit ebenso der vielleicht doch noch möglichen Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels der Erderwärmung. Die Abkehr von der Atomkraft aus ökologischen, ökonomischen und zukunftsorientierten Gründen aus heutiger Sicht anerkannt sinnvoll und in der deutschen Bevölkerung verankert, daher läuft der Begriff der Ideologie als Vorwurf ins Leere, wendet sich vielmehr gegen den Vorwerfenden selbst, da dieser der fortschreitenden Erkenntnis nicht Schritt hält. Es werden demgegenüber selbstverständlich auch Gründe ins Feld geführt, Fracking zu betreiben oder die Laufzeit von Atomkraftwerken zu verlängern (wie Fragen der aktuellen Energiesicherung), diese sind aber ebenso ideologisch geprägt, unterliegen selbst einer Idee, jedoch einer (überkommenen) Weltanschauung im Zeitalter Erneuerbarer Energieformen. Technikgläubigkeit, die in den Diskussionen um Atomkraft oder um Methoden wie dem Fracking an den Tag gelegt wird, ist ebenfalls ideologisch geprägt, der Vorwurf – will man einen solchen konstruieren – ließe sich also bestens umdrehen. Und ein allgemeines Tempolimit rettet nicht nur Menschen- und Tierleben, sondern würde auch die Lärm- und Feinstaubbelastung senken, damit zur Gesundheit vieler beitragen, die Abhängigkeit von Öl senken und damit zur Reduzierung des CO2-Verbrauchs beitragen. Das Festhalten am Slogan „freie Fahrt für freie Bürger“ offenbart ein sehr einseitiges Verständnis einer Idee von Freiheit – und ist damit Ideologie. Technikgläubigkeit oder ein sehr eng definierter Begriff persönlicher Freiheit sind also ebenso Ideologien, egal aus welchem Blickwinkel man diese betrachtet.

Es darf und sollte einen Wettstreit um die besten Ideen geben, wobei die besten Ideen den Kriterien der Zukunftsfähigkeit, der Gemeinwohlorientierung und ganz allgemein der unabdingbaren „Lebensdienlichkeit“ (Peter Ulrich) unterliegen müssen. Insofern der wissenschaftliche und technische Stand der Forschung Eingang in die Ideen findet und Bestandteil des kritischen Diskurses unter Berücksichtigung der genannten Kriterien ist, würde das einem positiven Ideologiebegriff folgen. Technik um der Technik willen dagegen bleibt Selbstzweck und es kann sich der Eindruck verfestigen, der Einsatz soll allein dem Erhalt machtbezogener und/oder ökonomischer Vorteile (Energieversorger, Ölproduzenten, Autobauer) dienen.

Wenn ein Politiker oder eine Politikerin einem Politiker oder einer Politikerin eines anderen politischen Lagers also Entscheidungen oder Begründungen aus „ideologischen Gründen“ attestiert und diese Entscheidungen damit bloß diskreditieren will, verkennt diese:r mehrere Punkte:

  1. Alle Entscheidungen, auch die eigenen, unterliegen letztlich und ganz basal ideologischen Gründen, da sie einer Weltanschauung, einem Erkenntnisstand und einer Idee unterliegen. Der eigene Standpunkt ist geschichtlich, gesellschaftlich und sozial ideologisch (geprägt) und daher läuft ein Vorwurf der Ideologie an andere ins Leere. Selbst, wenn man sich selbst attestieren möchte, vermeintlich ideologiefrei zu sein, kann das auf zweifachem Wege widerlegt werden: Wie fatal wäre es denn, würde der Mensch keinerlei Ideen und Überzeugungen anhängen und vor allem neue Erkenntnisse nicht im Rahmen (s)einer Entwicklung einbeziehen? Und insofern man sich selbst als vermeintlich frei von Ideologie definiert, ist auch das bereits wieder Ideologie, nämlich eine bloß idealisierte oder idealisierend gemeinte Idee von sich selbst und auch so kann dieses Argument ad absurdum geführt werden.
  2. Der diskreditierend vorgebrachte Vorwurf der Ideologie ist stets total, da dem anderen die Möglichkeit einer objektiven Beurteilung der Sache abgesprochen wird. Damit handelt es sich um ein sog. Totschlagargument, was der Idee eines seriösen politischen Diskurses widerspricht und – siehe Marx – dem bloßen Machterhalt auf Basis partikulärer Interessen dienen soll.
  3. Wenn eine Entscheidung auf Ideologie beruht, beruht sie – den wissenschaftlichen Begriff von Ideologie heranziehend – bestenfalls auf der Basis fortschreitender Erkenntnis. Der Ideologiebegriff ist dem Grunde nach also etwas sehr Positives, auch wenn er heutzutage mehrheitlich negativ belegt ist oder so verwendet wird.

Mit dem einseitigen Vorwurf an den (politischen) Gegner, aus ideologischen Gründen für oder gegen etwas zu sein, sollte man sich meines Erachtens daher zurückhalten. Denn entweder offenbart die Verwendung dieser Begrifflichkeit Unwissen über den Begriff (was niemand wollen kann) oder er wird rein instrumentalisierend eingesetzt, um den anderen unsachlich, nicht auf Basis des aktuellen Wissens- und Erkenntnisstandes zu diskreditieren und so die eigene Machtbasis zu sichern (was niemand wollen sollte). Kommt beides zusammen, also Unwissenheit und der Versuch plumpen Diskreditierens, wird es bösartig; Dummheit gepaart mit Handeln aus reinem Eigennutzen ist selbstzwecklicher Populismus in seiner niedersten Form und zeugt daneben nicht vom Willen echten politischen Diskurses zum Widerstreit der besten Ideen. Die andere Meinung soll bloß zum eigenen Machterhalt und eventuell auch zur Wahrung der eigenen ökonomischen Vorteile diskreditiert werden.

Die Orientierung an Erkenntnis, an Werten, die Orientierung an Normen und Maßstäben, wie an Platons Idee des Guten (Ethik) und an fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnissen sollten Richtschnur dessen sein, an dem wir unser Handeln ausrichten. Es wird höchste Zeit, dass wir den Ideologie-Begriff als positiven anerkennen und uns durchaus selbstbewusst, stolz und aus guten Gründen, abseits bloßer ökonomischer und machtbasierter Interessen, als Ideologen bezeichnen. Anhand dessen gilt es in der Folge, in den argumentativen Austausch zu gehen.

Objektivität in der Wissenschaft und Subjektivität in der Wahrnehmung bleiben freilich im Gegensatz, die Diskrepanzen in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung erleben wir jeden Tag. Wirtschaftliche Vorteile und Maßnahmen des Machterhalts orientieren sich nicht immer an der Wissenschaft, an einem Prinzip des Guten oder am unabdingbar Lebensdienlichen. Einem positiven Begriff der Ideenlehre folgend kann der schöne, zukunftsorientierte Satz von P. Peter Ehlen SJ aus dem Philosophischen Wörterbuch (Freiburg 2010, Seite 217), zum Nachdenken anregen, will man das nächste Mal einen anderen „bloßer Ideologie“ zeihen:

„Dass […] Erkenntnis den gesellschaftlichen Bedingungen verpflichtet ist, in denen sie vollzogen wird, ist nicht zu bestreiten; zugleich bleibt wahr, dass diese an Normen zu messen und auf sie hin zu verändern sind, die mit dem Faktischen noch nicht mitgegeben sind.“

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Zum Weiterlesen:
Die unbedingte Fortschrittsgläubigkeit im Übrigen ist ein speziell europäisches Phänomen, wie der Islamwissenschaftler Thomas Bauer sehr schön und lesenswert nachgewiesen hat. Auch wenn Fortschrittsgläubigkeit nicht allein auf Technikgläubigkeit zu reduzieren ist, entwickelte sich die Fortschrittsgläubigkeit als Ideologie (!) – verkürzt dargestellt – als eine Art Ersatzreligion seit der Reformation, insofern sich der Mensch nach Eindeutigkeit im Leben sehnt. (Vgl. u.a. Magazin der Süddeutschen Zeitung, Nummer 15/2022, Seiten 28-32.)
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Moral in der Fußball-Bundesliga?

Ist es moralisch vertretbar, formalen Einspruch gegen eine sportliche Niederlage einzulegen?

Heute mal ein kurzer Sport-Beitrag: Der SC Freiburg hat Einspruch gegen die Wertung des mit 1:4 gegen den FC Bayern München verlorenen Bundesligaspiels eingelegt. Nach Wechselfehler des FC Bayern: Freiburg legt Einspruch ein – Sport – SZ.de (sueddeutsche.de) Grund dafür ist ein Wechselfehler der Münchener, die verbotenerweise kurzzeitig mit 12 Spielern auf dem Platz standen. Dieser Einspruch ist wohl das gute Recht der Freiburger, jedoch – und das ist vorab festzuhalten – hatte der Wechselfehler keinerlei Einfluss auf das Ergebnis. Sollte man in einer solchen Situation formalen Einspruch einlegen, im Wissen, sportlich eindeutig unterlegen gewesen zu sein? Sollte man Einspruch einlegen, um sich – trotz dieser sportlichen Unterlegenheit – einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Mannschaften im Rennen um die lukrativsten Tabellenplätze zu verschaffen? Und sollte man dieses eigennützige Vorgehen mit dem vorgeblich hehren Ziel verknüpfen, man wolle ja nur künftigen vergleichbaren Situationen vorbauen?
Ich denke nein (außer der Wechselfehler durch den FC Bayern diente vorsätzlich dazu, mit 12 Spielern auf dem Platz zu stehen). Eine solche Vorgehensweise widerspricht dem, was man allgemein Sportsgeist nennt, Fairness und es widerspricht auch einem moralischen Verständnis dessen, wie Wettbewerb funktionieren kann, sofern dieser regelgeleitet ablaufen soll – und sofern man sich diesem System „Fußball“ unterwerfen will. Die Gebaren des nationalen und internationalen Fußballs mit dem Geflecht aus wirtschaftlichen Interessen, halbseidenen Spielervermittlern, obszön hohen Gehältern oder korrupten Sportfunktionären soll hier gar nicht weiter vertieft werden. Das kranke System befeuert sich selbst und wird nach wie vor von der Politik hofiert – getreu dem Motto „Brot und Spiele“.

Der Freiburger Cheftrainer Christian Streich tritt immer wieder mit mal mehr, mal weniger nachvollziehbar geäußerter Kritik an seiner Branche auf und fordert moralische Prinzipien ein. Gleichzeitig scheint er dabei zu verkennen, dass er freiwillig in dieser Branche der Ausschnittsbegabungen arbeitet (niemand wir gezwungen, sich dem System „Fußball“ zu unterwerfen), gleichzeitig dafür ein für viele Menschen unfassbar hohes Gehalt bezieht.

Merke jedoch: Moralisch verkommene Branche bleibt moralisch verkommene Branche. Und da hilft es auch nichts, wenn sich Freiburg immer wieder als gallisches Dorf inszeniert, das (vermeintlich) den sog. Marktgesetzen des nationalen und internationalen Fußballs trotzt. Und es hilft auch nichts, wenn sich die Bundesliga wechselseitig einen kauzigen Trainer „hält“, der immer wieder mit seinen unverständlichen, pseudo-philosophischen Einlassungen zum System (von dem er selbst in hohem Maße profitiert) die einen wahlweise langweilt, die anderen amüsiert oder aufregt. Denn, wie man seit gestern und dem bloß formalen Einspruch gegen eine sportliche Niederlage aus Eigennutzen weiß: diese Einlassungen sind zudem pseudo-moralisch. Das Feigenblatt in der Argumentation, man wolle (nur) Klarheit auch für künftige solcher Situationen, ist wohl bloß der verlogene Rechtfertigungsversuch (auch vor sich selbst).

Die Verantwortung in der katholischen Kirche.

Die Versuche der Leugnung und Vertuschung des jahrzehntelangen sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche sind endgültig gescheitert. Wie lassen sich die aktuellen Verteidigungslinien der damals und heute Verantwortlichen ethisch einordnen?

Die lange Zeit des Verschweigens, des Vertuschens und des Leugnens der maximalen Verfehlungen in der Katholischen Kirche ist in Deutschland zumindest zu Ende. Das von der Diözese München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten, das die Kanzlei WSW erstellt hat, beweist endgültig, was Opfer und Opfervertreter schon lange berichtet haben – den massiven sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener durch Geistliche der katholischen Kirche. (Kirche – München – Missbrauchsstudie: Mindestens 497 Opfer im Erzbistum München – Bayern – SZ.de (sueddeutsche.de) Bemerkenswert an dem Gutachten ist vor allem, dass es konsequent die Opferperspektive einnimmt. Damit wird explizit aus der Opfersicht berichtet und argumentiert und das trägt ganz erheblich dazu bei, dass den Menschen, die hier lebensprägendes Leid erfahren mussten, (endlich) geglaubt wird. Auch wenn das gerade den staatlichen Strafverfolgungsbehörden die Schamesröte ob der laschen Ermittlungen und der wohl oftmals kirchengefälligen Richtersprüche vieler vergangener Jahrzehnte in die Gesichter treiben müsste, soll hier und nachstehend die Katholische Kirche im Fokus stehen.

Dabei möchte ich lediglich auf zwei Punkte vertieft gehen. Einmal eine Aussage von Joseph Ratzinger (Erzbischof von München und Freising von 1977-1982, der Bruder des ehemaligen Wehrmachtssoldaten und als „Prügel-Schorsch“ bekannt gewordenen Priesters Georg Ratzinger Nachruf auf Georg Ratzinger: Gnade ihm Gott – taz.de). Und zum anderen eine Aussage von Reinhard Marx, dem seit 2008 und aktuell noch amtierenden Erzbischof eben dieser Diözese.

So ließ der „emeritierte“ Papst Ratzinger aktuell verlauten, das, was vielfach als sexueller Missbrauch berichtet wurde, sei – im damaligen juristischen Sinne – gar nicht als Missbrauch anzusehen und daher nicht strafbar gewesen. (Dass Ratzinger sofort nach seiner schriftlichen Stellungnahme an die Kanzlei WSW einer Falschaussage in anderem Kontext überführt wurde, obwohl er sich doch angeblich so gut an alles erinnern könne – geschenkt.) Und Marx ließ verlauten, alle die Verfehlungen der Geistlichen seien einem „Systemversagen“ innerhalb der Kirche geschuldet. Auch wenn das – meiner Meinung nach – Unsinn ist, wie ich unten aufzeigen werde, so konnte sich Marx wenigstens zu einer erneuten persönlichen Entschuldigung durchringen; das ist zumindest eine Geste, die Joseph Ratzinger bis heute nicht zustande gebracht hat. Zur Zusage einer erhöhten finanziellen Entschädigung der Opfer sexualisierter Gewalt in der Katholischen Kirche konnte sich Marx dagegen nicht überwinden.

Schauen wir uns die beiden oben genannten, exemplarischen Aussagen genauer an:

Ob etwas juristisch als strafbar anzusehen ist, ist einerseits selbstverständlich Bestandteil des Rechtssystems, der Gesetzeslage und der Rechtsprechung – so diese angewandt wird. Dass nicht alles, was (juristisch vielleicht) nicht verboten, auch geboten ist, ist die andere Seite. Kommen wir kurz zurück auf den „Prügel-Schorsch“ Georg Ratzinger: Dieser hat sich bis zu seinem Tod 2020 damit gerechtfertigt, sog. Backpfeifen seien ein übliches Erziehungsmittel der damaligen Zeit gewesen. Selbst wenn dem so war, gab es jedoch auch damals keinesfalls ein Prügelgebot und auch schon gewaltfreie Erziehung bzw. Erzieher:innen, die menschlich und seelisch ausreichend reif waren, sich nicht an Schwächeren zu vergreifen. Ein anderes drastisches Beispiel, das verdeutlicht, wie moralische Verfehlungen und gar Verbrechen nachträglich aus der Zeit heraus gerechtfertigt werden sollten: Mit dem Argument, man habe seinerzeit im Sinne des aktuellen Rechtssystems gehandelt, haben bereits die Richter der NS-Zeit versucht, sich im Rahmen der Verantwortung für ihre im wahrsten Sinne des Wortes unmenschlichen Todesurteile im Dritten Reich nachträglich zu exkulpieren. Der ergänzend ethische Aspekt kann und darf hier aber nie außer Acht gelassen werden. Und damit zurück zur sehr eigennützigen Auslegung dessen, was früher als sexueller Missbrauch anzusehen gewesen sein sollte. Zumindest katholisch-sozialethisch gebildet ist Joseph Ratzinger ganz sicherlich, zudem hat er Philosophie studiert. Man darf also fest davon ausgehen, dass er sehr gut über die großen ethischen Paradigmen Bescheid weiß. Und dass „nackte Priester mit Pornoheften neben Kindern“  Münchner Missbrauchsgutachten: „In einen Dunkelraum hineingeleuchtet“ – München – SZ.de (sueddeutsche.de) in keinem Falle – noch unabhängig jeder juristischen Bewertung – irgend geartet moralischen Anspruch erheben können, ist offenbar. Weder einer Idee der Tugend noch einer Verantwortungsethik entspricht dieses Bild; einer Nutzenethik entspricht das allenfalls auf der Ebene bloßer individuell-hedonistischer Befriedigung (eine solche ist für katholische Priester in Richtung körperlicher Sexualität schon auf erwachsener Basis zwischen zwei sich liebenden Menschen systemimmanent jedoch nicht vorgesehen), keinesfalls aber auf einer Ebene mit universalgültigem Anspruch und dem Ziel kollektiver Nutzenmehrung. Eine Idee der Fürsorge kann damit ebenso wenig verbunden werden, wie ein Konzept, das die Würde des anderen Menschen unabdingbar achtet. Welche Ansprüche sollte man allerdings an Seelsorger haben, wenn nicht exakt diese? Ratzinger ist sich dessen sehr wohl bewusst, man mag sich gar nichts anderes vorstellen. Somit stecken in seinen Aussagen zum einen wohl Kalkül (das hier sicherlich nicht angebracht ist, zumal eben für einen Seelsorger) und damit wieder bloß kirchlicher Eigennutzen, zum anderen die Weigerung der Übernahme von Verantwortung, was uns direkt zu Reinhard Marx führt.

Marx nennt das Versagen der Kirche und ihrer Institutionen ein „systembedingtes“. Damit wird die Verantwortung an ein System abgeschoben, in dem es zu den massiven Verfehlungen und Straftaten sowie den systematischen Vertuschungen kommt. Was Marx hier (sicherlich nicht unabsichtlich) vollkommen verkennt, ist die Verantwortung des Einzelnen. Und damit meine ich einerseits selbstverständlich die Verantwortung der Vorgesetzten in der Kirche, die pathologische, unmoralische und strafbare Handlungen geduldet und nicht konsequent darauf reagiert haben. Auf der anderen Seite gibt es aber ebenso die unbedingte Verantwortung des einzelnen Priesters. Verantwortung in der einfachsten Dimension meint, sich verantwortlich zu fühlen und sich als Handelnder für etwas vor einer Instanz rechtfertigen zu müssen. Diese Instanz kann einmal eine innerkirchliche Instanz sein, selbstredend Recht und Gesetz (die Strafverfolgungsbehörden haben wohl vielfach versagt) oder – man höre und staune – das eigene Gewissen. Und wenn einem das eigene Gewissen in Verbindung mit Aspekten wie Verantwortungsbewusstsein, Empathie, echter Fürsorge, Mitleid oder Mitgefühl nicht vorgibt, Schutzbefohlene nicht zu schlagen (vgl. „Prügel-Schorsch“ weiter oben) oder sich an diesen nicht sexuell zu vergreifen – ja dann sind unabdingbar die Institutionen gefordert. Und dann gilt es nicht zuletzt zu überlegen, ob der Einzelne für seinen Beruf in der Kirche und am Menschen menschlich ausreichend qualifiziert ist – und zwar auf jeder hierarchischen Ebene, vom Priesterschüler über den Chorleiter, den Erzbischof bis zum Papst. Diese Verantwortung oblag und obliegt dem einzelnen Vorgesetzten und unterliegt wiederum gleichzeitig der gewissenhaften, verantwortungsbewussten Selbstbefragung. Sich individuell hinter einem angeblichen Systemversagen zu verstecken ist (so wie ich das sehe) feige und keines ernsthaften Vorgesetzten würdig, ob innerhalb oder außerhalb kirchlicher Bezüge.

Und deswegen ist dieser Artikel auch übertitelt mit „Die Verantwortung in der Kirche“, nicht bloß mit „Die Verantwortung der Kirche“. Verantwortlich ist streng genommen niemals eine Institution, es sind stets die handelnden Menschen, die diese Institution konstituieren.

Nachtrag 04.02.2022: Es wird nicht besser. https://www.spiegel.de/panorama/justiz/missbrauchs-skandal-aufregung-ueber-regensburger-bischof-voderholzer-a-e879fc76-22ef-4bec-8956-b64144a96108

Update 08.02.2022: https://www.spiegel.de/panorama/papst-benedikt-xvi-bittet-opfer-um-entschuldigung-a-17b8a130-4d33-4b7d-ae6c-d46d5c2b1066

Lesetipp:

Sehr lesenswert ist der Blogartikel eines Kollegen zum Thema; Michael Rasche, selbst ehemaliger Priester, hat sich sehr intensiv mit den aktuellen Entwicklungen auseinandergesetzt:

Ein moralischer Selbstmord – Katholische Kirche und der Missbrauch | Michael Rasche

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Mein Plädoyer für ein Wahlrecht ab 16 Jahren.

Kürzlich erging das bahnbrechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimagerechtigkeit: Dabei wurde den teilweise sehr jungen Beschwerdeführer:innen insofern Recht gegeben, als die Regelungen des Klimaschutzgesetzes der Bundesregierung aus 2019 als nicht ausreichend erachtet werden – als nicht ausreichend, die gemäß Pariser Klimaabkommen staatlich selbst gesetzten (!) und verbindlichen Ziele zu erreichen. So sind junge und kommende Generationen durch diese unzureichenden Regelungen zur Emissionsreduktion aktuell und perspektivisch sowohl in ihren Schutzrechten wie ebenso in ihren Freiheitsrechten beschränkt. (Bundesverfassungsgericht – Presse – Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich))

Das Urteil sollte als Anlass genommen werden, die Debatte über eine Altersabsenkung im Rahmen des allgemeinen Wahlrechts neu zu beleben.

Ich plädiere hier ausdrücklich für die Absenkung des Wahlalters und stelle folgende vier Aspekte bzw. Fragen zur Diskussion:

Die Gerechtigkeitsfrage

In einer überalternden Gesellschaft, die durch steigende Lebenserwartung und sinkende Geburtenraten gekennzeichnet ist, braucht es ein demokratisch legitimiertes Gegengewicht gegen eine Gerontokratie. (Gesellschaft der Alten: Alterspyramide – Alter – Gesellschaft – Planet Wissen (planet-wissen.de))

Selbstverständlich ist den Ansprüchen, Bedürfnissen und Wünschen der älteren Menschen in unserem Lande gerecht zu werden. Nachdem die Zukunft naturgemäß jedoch den Jüngeren gehört, wäre die Absenkung des Wahlalters eine Möglichkeit, auch diese Perspektive demokratisch besser und adäquater abgebildet zu bekommen.

Die allgemeine Frage nach Partizipation

Nicht nur in der politischen Philosophie wird zum Thema der Partizipation künftiger Generationen geforscht. Erarbeitet werden etwa Vorschläge, wie die Rechte und Bedürfnisse der heute noch nicht Geborenen im Rahmen demokratisch legitimierter Prozesse berücksichtigt werden können. Auch die Nachhaltigkeitsdebatte hat letztlich kein anderes Ziel: Es gilt, einen lebenswerten Planeten für kommende Generationen zu erhalten. Wenn jetzt aber bereits darüber nachgedacht wird, künftige Generationen über bestimmte Wege quasi passiv in die demokratische Willensbildung einzubeziehen: wieso sollten dann die aktuell schon geborenen jüngeren Generationen kein aktives Wahlrecht erhalten?

Die Bildungsfrage

Ein Argument gegen die Absenkung des Wahlalters lautet wiederkehrend, jüngere Menschen wären noch nicht ausreichend reif, gefestigt oder politisch gebildet (womit das staatliche Bildungssystem gemeint ist), um eigenverantwortlich und selbstbestimmt wählen zu können. Diesem Argument kann man in zweifacher Weise entgegentreten:

Auf der einen Seite zeigen diverse Umfragen und Studien, dass durchaus hohes politisches Bewusstsein bei den Jugendlichen herrscht. (Shell Jugendstudie 2019: Jugendliche melden sich zu Wort | Shell Germany) Die „Fridays for Future“-Bewegung etwa bestätigt das auch eindrücklich ganz praktisch und aktuell.

Auf der anderen Seite wird dieses Argument oft von Politikern vorgebracht, also von denjenigen, die für das Bildungssystem in unserem Land unmittelbar verantwortlich zeichnen. Das ist mir jedoch zu einfach: einerseits die bekannten, wiederkehrend verschiedentlich angemahnten und uns allen bewussten Missstände im Bildungssystem unzureichend zu beheben, den (vermeintlich) fehlenden Bildungsstand dann aber gleichzeitig argumentativ gegen die Betroffenen zu wenden. Nicht nur schlechter Stil.

Die Verantwortungsfrage

Ein weiteres, und durchaus bedenkenswertes, Argument gegen die Absenkung des Wahlalters lautet, man würde den Jugendlichen damit eine (zu) hohe Verantwortung aufbürden. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass es um die Einführung des Wahlrechts, nicht der Wahlpflicht für Menschen zwischen 16 und 18 Jahren geht.

Zudem gestehen wir bereits heute 17-Jährigen zu, eine Vorstufe des Führerscheins zu erwerben. Im Rahmen des sog. begleiteten Fahrens startet die Ausbildung dazu bereits mit 16 Jahren. Und warum sollte also ein junger Mensch, der Verantwortung im Straßenverkehr übernehmen muss, nicht auch Verantwortung im demokratisch verfassten Staat via Wahlrecht übernehmen können?

Fazit

Insgesamt denke ich, dass die genannten Aspekte (die Fragen nach der Gerechtigkeit, nach Partizipation, nach Bildung sowie nach der Verantwortung) sehr gut geeignet sind, die Absenkung des allgemeinen Wahlrechts auf 16 Jahre zu rechtfertigen. Das Wahlalter ist veränderbar! Unter dem Bundeskanzler Willy Brandt wurde das Wahlrecht für 18-Jährige eingeführt, das bis 1970 erst ab 21 Lebensjahren gegolten hatte. Die Contra-Argumente von damals klingen wohlvertraut: So wurde Menschen zwischen 18 und 21 die Reife abgesprochen, via Wahlrecht am politischen Willensbildungsprozess aktiv zu partizipieren. Heute würde niemand mehr das Wahlrecht ab 18 in Frage stellen.

Ein weiteres beliebtes Gegenargument gegen die Absenkung ist, dass der nächste Schritt dann das Wahlrecht ab 14 Jahren sein könnte. Unabhängig davon, dass gegen eine weitere Absenkung unter Umständen tatsächlich entwicklungspsychologische Argumente sprechen, sollten wir das dann jedoch zu gegebener Zeit diskutieren.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die neue Bundesregierung nach der Bundestagswahl 2021 zur Frage einer Wahlrechtsreform zugunsten der jüngeren Generationen positioniert.

Anmerkung: Das Beitragsbild stellt ein Graffito dar, gesehen an einer Straßenecke in der kroatischen Stadt Rijeka.

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In eigener Sache.

Der Relaunch der Website der LOGOS Strategie Sustainability Beratung Dr. Alexander Braml ist online gegangen!

Das Gründungsjahr meines Unternehmens, der LOGOS Strategie Sustainability Beratung Dr. Alexander Braml, ist das Jahr 2015. Und fünf Jahre ist es nun her, dass die Website der LOGOS Strategie online gegangen ist – das war 2016.
Diese fünf Jahre waren geprägt von vielen tollen Begegnungen mit Menschen, von unzähligen interessanten Gesprächen, von Diskussionen und von intensivem Austausch. Nicht nur zum Thema Nachhaltigkeit – aber doch in einem hohen Maße geprägt durch die gemeinsame konstruktive Beschäftigung mit den Fragestellungen: Wie wollen wir leben und arbeiten? Wer wollen wir sein? Wie wollen und können wir gemeinsam die Zukunft gestalten? 
Nach fünf interessanten und spannenden Jahren war es nun an der Zeit, dem Online-Auftritt des Unternehmens ein neues Kleid zu geben. Das Ergebnis steht (www.logos-strategie.de) und kann sich sehen lassen, so wie ich meine!

Ganz herzlich danke ich meinen Mitstreitern, die das Unternehmen der LOGOS von Anfang an meiner Seite begleitet haben: meinem Vater, Kurt F. Braml sowie Jan-Henrik Witte und Michael Martsch (www.logos-strategie.de/team). Meinem Bruder, Constantin Braml, der das tolle Teamvideo gedreht und geschnitten hat. Herbert Lüdtke, der dieses Video so stimmig vertont hat. Silvan Dolezalek und seinem Team von der CosmoShop GmbH für die technische Unterstützung. Dominique Schneider vom Studio ´93 in Manching für das aktuelle Fotoshooting unter wahrlich erschwerten Corona-Bedingungen! (Der Dank in diesem Zusammenhang geht auch an das Kelten- und Römermuseum in Manching für eine Art „Guerilla-Shooting“. Die Mitarbeiterinnen dort wundern sich wahrscheinlich noch heute, wie wenig sich Menschen für die ausgestellten Artefakte interessieren können, die doch Eintritt in das Museum bezahlt haben…)
Und und und – diese Liste ließe sich weiter fortsetzen. Danke Euch allen, die uns unterstützt haben und die an uns glauben. Und danke natürlich allen Kunden, Partnern und Interessenten!

Ich bin sehr froh darüber und auch stolz darauf, dass wir in weitere gemeinsame Jahre gehen.

Das Thema der Nachhaltigkeit bleibt auch künftig im Fokus. Die Fragestellungen, die uns beschäftigen, sind unverändert diese: Wie wollen wir leben? Und wie wollen wir arbeiten? Das Berufs- und Arbeitsleben macht nach wie vor einen sehr großen Anteil des Selbstverständnisses der meisten Menschen aus. Und in Unternehmen, Organisationen, Sozialverbänden, Kirchen oder NGOs, aber auch in der politischen Arbeit werden Entscheidungen getroffen. Nämlich die Entscheidungen, die mit zu dem beitragen, was unsere Zukunft ausmacht, wie sich unsere Zukunft entwickelt. Alle Menschen aber, nicht nur diejenigen, die in diesen Organisationsformen arbeiten, bilden unsere Gesellschaft. Und gesellschaftlich sind die Fragen zu diskutieren, die sich eben mit dem auseinandersetzen, wie wir arbeiten und wie wir leben wollen – lokal und global.

Unser Angebot bezieht sich umfassend auf die gemeinsame Beschäftigung mit eben diesen Fragestellungen: ob als Gesprächspartner oder gar Ratgeber, als Lernbegleiter in Seminaren, als Moderator oder im individuellen Coaching. Getreu unserem Leitspruch: Wir bei der LOGOS Strategie verstehen das als dia-logos, als Austausch, als sprachliches Ins-Verhältnis-Setzen mit Menschen. Denn die Menschen sind es, mit denen wir arbeiten wollen und denen stets unsere Aufmerksamkeit gilt.

Wir danken herzlich für das uns bisher entgegengebrachte Vertrauen. Und schenken Sie uns auch künftig dieses Vertrauen.

Wir freuen uns auf die Zukunft!

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Unsere Apokalypse-Blindheit.

Nicht erst im laufenden Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021 werden zwei widerstreitende Positionen in ihren Extremen diskutiert: Eine Seite fordert eine radikale Umkehr unserer Lebensweise zur Einhaltung des 1,5 Grad-Klimaziels und damit dem Erhalt des Lebens. Die andere Seite bestreitet, dass es maßgebliche Änderungen in unserem Verhalten geben müsse, würden sich doch technische Lösungen finden lassen, die Folgen der Klimaerwärmung abzufedern und für die Menschheit zumindest erträglich zu gestalten.

Vorab: Ich glaube aus verschiedenen Gründen nicht, dass technische Entwicklungen allein die Lösung sein können, um die Klimakrise zu bewältigen. Wir sollten uns die Technik auch künftig zunutze machen, diese kann jedoch nur ein „auch“, kein „alleine“ bedeuten, gerade, wenn man sich die weltweiten Entwicklungen ansieht. Technische Möglichkeiten, aber auch Grenzen, sind parallel gesamtgesellschaftlich und global unabdingbar zu diskutieren und abzuwägen.

Woher kommt bei vielen Menschen jetzt aber eine unbedingte Technikgläubigkeit und die – letztlich – doch Zuversicht (oder bloße Hoffnung?), auf einer solchen Basis technischer Weiterentwicklung würde alles „gut“ werden können?

Der Philosoph Günther Anders (1902-1992) hat bereits 1956 (!) äußerst hellsichtig den Zusammenhang zwischen unserer Fortschrittsgläubigkeit und einer „Apokalypse-Blindheit“ herausgearbeitet. Jetzt muss man Anders aus seiner Zeit heraus lesen, er war u.a. einer der Begründer der Anti-Atomkraft-Bewegung. Was aber verbirgt sich hinter seiner Theorie und warum können wir die Gedanken Anders‘ dennoch hervorragend in unsere Zeit übertragen?

Die klassische Definition der industriellen Revolutionen zählt folgende Entwicklungsschritte auf dem Weg in unser heutiges, digitales Zeitalter auf: Die Nutzung der Dampfkraft und die Mechanisierung der Produktion, die Elektrifizierung des Lebens und die Fließbandfertigung, die Automatisierung mittels computergesteuerter, speicherbasierter Anwendungen sowie aktuell die Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche.    
Dem setzt Günther Anders seine eigene Definition dreier industrieller Revolutionen gegenüber. Die erste Revolution verortet er in der Tatsache, dass Maschinen es selbst sind, die maschinelle Teile herstellen. Entgegen dem Ergebnis des Handwerkers entsteht so erst am Ende der Produktionskette ein fertiges (Konsum-)Gut. Als zweite industrielle Revolution bezeichnet Anders – und das bereits Mitte der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts! – die Tatsache, dass durch Werbung erst Bedürfnisse und damit auch ein immer Mehr an zu produzierendem Bedarf geschaffen werden. Produktzyklen richten sich demnach nicht mehr nach der technischen Lebensdauer, vielmehr werden einzelne Produkte durch ihre Nachfolger abgelöst, die besser, schneller, noch funktionaler sind und alleine deswegen begehrt werden. Und als dritte industrielle Revolution definiert Anders die Nutzbarmachung der Kernenergie. Namentlich die Atombombe markiert bei Anders eine übergeordnete, nein, DIE übergeordnete Stellung: der Mensch ist seit der Entwicklung der Atombombe in der Lage, sich selbst vollständig auszurotten. Diese Tatsache schwebt seitdem über uns allen, hinter dieses Wissen kommen wir als Menschheit nie mehr zurück. Daher kann es – nach Anders – auch keine weitere industrielle Revolution geben. Mit der Gefahr der totalen Auslöschung haben wir das letzte denkbare Zeitalter erreicht. Die Kernenergie in ihrer absoluten Wirkung kann noch nicht mal mehr Mittel zum Zweck sein – sollten wir uns als Menschheit wirklich ausgerottet haben, gibt es keinerlei Zwecke und auch keine Mittel mehr, diese zu verfolgen:

„[…] anstelle des trostlosen „Es wird gewesen sein“ [würde] das noch trostlosere „Nichts war“ seine von niemandem registrierte und darum gültige Herrschaft antreten.“ (Anders 1985, 245.)

Mit und seit der Atombombe sind wir als Menschheit die „Herren der Apokalypse“ (Anders 1985, 239), jederzeit in der Lage uns vollständig auszulöschen. Gleichzeitig sind wir – so Anders weiter – als Menschheit unfähig zur Angst vor dieser Tatsache und apokalypseblind. Woraus resultieren diese Tatsachen aber?   
Erstens fehlt uns das Vorstellungsvermögen. Weiter als in eine kurzfristige Zukunft können (und wollen) wir nicht denken. Und auch wenn wir wissen, eine Stadt komplett auslöschen zu können, fehlt uns das (bildliche) Vorstellungsvermögen der realen Tatsachen und Auswirkungen dessen. Zweitens klaffen – damit zusammenhängend – das Machen und das Fühlen sowie das Wissen und das Begreifen auseinander. Zwar haben wir Angst vor der eigenen Sterblichkeit, können uns gleichzeitig nicht in die reale Todesangst anderer Menschen, wie die dieser Stadt, einfühlen. Drittens sind wir fortschrittsgläubig. Diese Fortschrittsgläubigkeit definiert sich wiederum über mehrere Aspekte: einmal in der Zuversicht, dass alles immer besser wird und der Neigung des Menschen, alles erlebte und denkbare Schlechte in der Vergangenheit, niemals in der Zukunft zu verorten. Zukunft ist für uns nicht mehr das Kommende, sondern das (technisch) Gemachte. Gleichzeitig haben wir – in post-religiöser Zeit – den Verlust der (absoluten) Höllenangst erlitten. Diese alles übersteigende Angst fehlt uns modernen Menschen.

Fortschrittsgläubigkeit bedingt somit Apokalypse-Blindheit.
Beides verortet Anders im Bereich moralischer Fragen. Es muss – übertragen auf unser eigenes Leben – darum gehen, was des technisch Machbaren wir können, dürfen, sollen und auch wollen. Für sein Handeln kann der Mensch Verantwortung übernehmen. Der moderne, arbeitsteilig und konformistisch organisierte Mensch handelt im Berufsleben jedoch nicht, sondern er tut lediglich. Eine Reflexion über die eigene Arbeit kann in einem solchen bloßen Tun nicht mehr stattfinden, der Mensch überlässt sich der Arbeit, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Damit kann er auch kein Gewissen (mehr) haben. Gleichzeitig gilt dieses Tun als absolut neutral. Im Bereich des Berufslebens gibt es kein gut oder böse, Erwerbsarbeit und Produkt werden getrennt. Egal, wofür das Produkt dann verwendet wird, wofür es steht, was es bedeutet, die Arbeit daran wird als moralisch neutral betrachtet. Und so kann der Mensch in seinem Tun gar kein Gewissen entwickeln.

Welche Parallelen zu heute kann man daraus ziehen, welche der Punkte können auf unsere heutige Situation übertragen werden?   
Wir leben noch immer unter der Bedrohung der Tatsache, dass wir uns als Menschheit atomar ausrotten können. Weder ist ein weltweiter Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie zu erwarten noch eine atomwaffenfreie Welt. Gleichzeitig glauben wir nicht an unsere eigene Vernichtung, sind also apokalypseblind.
Diese Blindheit lässt sich aber ebenso für die Bedrohung durch die menschengemachte globale Erwärmung konstatieren. Allen schon heute negativen Szenarien und Prognosen zum Trotz sind wir zu einer (radikalen) Veränderung unserer Lebensweise nicht bereit. Mit Anders gesprochen fehlt uns das Vorstellungsvermögen, welche realen (!) negativen Auswirkungen auf uns und unsere Kinder warten, wenn die globalen Kipp-Punkte überschritten sind. Und es fehlt wohl auch die Angst davor. Die Erwartung einer besseren Zukunft (die wie selbstverständlich durch Technik besser gemacht wird), unbedingte Fortschrittsgläubigkeit also, lässt viele von uns ruhig schlafen.

Gleichzeitig gibt es eine steigende Anzahl an Menschen bei uns, die sich für eine Veränderung der Lebensweise einsetzt. Gerade bei Jüngeren, deren Zukunft unmittelbar bedroht ist, wächst das Bewusstsein, dass es ein „Weiter so!“ nicht geben kann. Diese Entwicklung gibt Zuversicht und findet hoffentlich möglichst bald auch politische Mehrheiten.

Ergänzend dazu sind folgende Punkte bedenkenswert:

  1. Wir müssen technische Entwicklungen (und zwar jede) unabdingbar und noch viel stärker unter ethischen Aspekten lokal und global betrachten und diskutieren.
  2. Es muss sich das Bewusstsein durchsetzen, dass Arbeit und hergestelltes Produkt moralisch nicht voneinander zu trennen sind. Auch die Arbeit beispielsweise in der Buchhaltung eines Rüstungskonzerns kann moralisch nicht neutral sein, da es das Produkt, das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit nicht ist. Alles andere wäre absurd.
  3. Den Menschen muss – mit den Punkten 1 und 2 zusammenhängend – die Möglichkeit eröffnet werden, ein Gewissen aufzubauen. Bildungsprozesse und Wissen/Erkenntnis in allen Lebenslagen können dabei unmittelbar unterstützen.
  4. Ohne in Fatalismus oder Nihilismus zu verfallen…
  5. …sollten wir die Phantasie entwickeln, was kommen kann. Und dann handeln.

Zum Weiterlesen:

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution und Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1985 und 1986.

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