Die politische Verantwortung von Unternehmen

Die Frage nach der politischen Verantwortung von Unternehmen wird im wissenschaftlichen Diskurs debattiert, spaltet vor allem aber die Vertreter und Vertreterinnen von Unternehmen. Während die einen AfD-nahe Positionen vertreten, rufen andere ihre Belegschaft zum Wahlboykott der extremen Rechten auf. Während die einen Diversitätsziele hochhalten, schleifen Weltkonzerne wie SAP oder die Telekom diese (in vorauseilendem Gehorsam und in bester Green- bzw. Bluewashing-Manier) beispielsweise in den USA aufgrund der aktuellen Entwicklungen unter der Trump-Administration.

Befragt zu den Gründen, neben unternehmerischer auch politische Verantwortung zu übernehmen oder übernehmen zu wollen oder eben nicht, zeigt sich im Wesentliche ein zweigeteiltes Bild: während größere Unternehmen tendenziell die Verpflichtung zu einer solche Verantwortungsübernahme befürworten, zeigen sich kleinere Unternehmen hier tendenziell zurückhaltender. Befragt zu den Gründen zu Pro und Contra werden u.a. folgende Argumente genannt:

Pro: Stärkung der Markenidentität, Mitgestaltung des gesellschaftlichen Wandels, Vorbildfunktion, Wertetransparenz, Übernahme gesellschaftspolitischer Verantwortung.

Contra: Angst vor Zielgruppenboykott, Angst vor Verlust von Mitarbeitenden und Lieferanten, Unsicherheit, ob die Maßnahmen auch tatsächlich wirken, Angst vor Glaubwürdigkeitsverlust, Shitstorms und Polarisierung.

Während also die Contra-Argumente eher auf betriebswirtschaftliche Zielerreichungssysteme abstellen, finden sich in den Pro-Argumenten potentiell auch normativ wirksame Gründe. Das Bild relativiert sich jedoch schnell, schaut man in die aktuell von der TU Dresden-Zittau gemeinsam mit Civey veröffentliche Studie: ESG 2025 – Relevanz, Herausforderungen und strategische Perspektiven in deutschen Unternehmen. Die Studie zielt auf die Einhaltung und Berichterstattung im Rahmen der ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) ab, welche einen unmittelbaren Ausfluss der nationalen Umsetzung der EU-Nachhaltigkeitsagenda darstellen. Mittelbar kann die ESG-Gesetzgebung gar auf den UN Global Compact zurückgeführt werden, eine Initiative, die bereits 1999 maßgeblich aus den Unternehmen selbst heraus entstanden ist. In der aktuellen Studie also zeigt sich ein ambivalentes Bild; ESG wird in den Unternehmen zwar weniger als normative Grundlage allen wirtschaftlichen Handelns, sondern vorwiegend als Teil der betriebswirtschaftlichen Strategie gesehen. Gleichzeitig sehen lediglich 10,5 % der Befragten Diversität und Inklusion als relevant für das eigene Unternehmen an, nur 11 % Biodiversität und Naturschutz, nur gut 12 % den Schutz von Frauen- und Minderheitenrechten oder von Menschenrechten in der Lieferkette oder lediglich 12,9 % die Bekämpfung des zunehmenden Rechtextremismus. Spitzenreiter der Umfrage ist mit knapp 40 % die Energieeffizienz als strategierelevantes Ziel – mit Energie sind jedoch auch erhebliche Kosten verbunden, die sich unmittelbar senken lassen. Fazit: Ziele, die sich kurzfristig positiv auf die Kostensituation niederschlagen, werden als wichtiger erachtet, als solche, die bei der Förderung keinen unmittelbaren Benefit auf die Umsatz- und Gewinnsituation der Unternehmen mit sich bringen.

Corporate Citizenship als Haltung

Die Achtung der Menschenrechte, die Gleichbehandlung der Geschlechter, die Bekämpfung von Kinderarbeit oder die Einhaltung dieser Kriterien in der Wertschöpfungskette sind jedoch Themen, die im globalisierten Handel und der globalisierten Produktion aus guten Gründen auf der (politischen) Agenda stehen. Welche Begründungen können jetzt also auch für die unmittelbare Übernahme auch politischer Verantwortung in Unternehmen angeführt werden?

Hierfür skizziere ich nachstehend das Bild des „Corporate Citizens“, bevor ich diese Denkfigur auf unternehmensethische Ansätze projiziere. Im Anschluss plädiere ich für die unbedingt notwendige Übernahme politischer Verantwortung durch Unternehmen. Dazu werde ich mich unterschiedlicher Argumentationen bedienen. Zum Abschluss stelle ich eine Auswahl an relevanter deutschsprachiger, aber auch englischer Literatur vor, die exakt diese Forderung unterstützt.

Der Corporate Citizen, der gute Wirtschaftsbürger, ist eine Denkfigur, die v.a. im politischen und (wirtschafts-)wissenschaftlichen Diskurs Anwendung findet. Im Fokus steht dabei der verantwortungsbewusst und verantwortungsvoll denkende und handelnde Staatsbürger (Citizen). Inkorporiert in ein Unternehmen, das selbst ja bloß eine juristische Hülle darstellt, gilt es, im Handeln an der Schnittstelle von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik eben Verantwortung zu übernehmen. Durch die Betrachtung des Verantwortungsgedankens sowie durch den Bezug auf (moralisch) gutes Handeln kommen im Rahmen der Denkfigur deontologische, tugendethische sowie fürsorgliche Aspekte zum Vorschein.

Der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter Ulrich (*1949) bringt den Corporate Citizen in seinem Modell unternehmensethischer Ansätze (Ulrich 2016) zur Anwendung. Ulrich unterscheidet vier mögliche Ansätze unter dem Primat der (notwendigen) Gewinnerzielung von Unternehmen, wobei die Ansätze nicht trennscharf sind und sich durchaus überlappen können:

  • instrumentalistischer Ansatz: Unternehmensethik als Strategie (Gefahr: Green-, Bluewashing)
  • karitativer Ansatz: Gewinnverwendung außerhalb des Geschäfts für karitative Zwecke (Schwierigkeit: diese karitative Verwendung gibt keine Hinweis auf die Frage, mit welchem ggf. fragwürdigen Geschäftsmodell die Gewinne erwirtschaftet wurden; Verdacht der „Freikauf-Mentalität“)
  • korrektiver Ansatz: situative Geschäftsbegrenzung bezogen auf z.B. einzelne Regionen oder bestimmte Geschäftsbereiche (Schwierigkeit: Beliebigkeit aufgrund meist fehlender normativer Grundlage)
  • integrativer Ansatz: der für Ulrich einzig zulässige Ansatz, der die Gewinnmaximierung (nicht die bloße -erzielung) unter unabdingbaren (kategorischen) Legitimitätsvorbehalt stellt. Dieser unterliegt der menschlichen Vernunft einerseits, der Anforderung der Lebensdienlichkeit aller Entscheidungen andererseits und kann nur unter diesen Prämissen Zukunftsfähigkeit entwickeln. In diesem Ansatz können oder müssen die anderen drei Ansätze dann (auch) zur Anwendung kommen.

Wer sich als Corporate Citizen versteht, muss sich demnach der Tatsache unabdingbarer Legitimität verschreiben, die auch nach Ulrichs Ethik in deontologischen und tugendethischen Grundlegungen zu finden ist. Die unabdingbare „Lebensdienlichkeit“ (Ulrich 2016) jeder unternehmerischen Entscheidung und Handlung stellt dabei die Norm dar, die – im Sinne der Diskursethik – tagtäglich diskursiv zu verhandeln ist, in Unternehmen, in der Gesellschaft, im Staat, in der Politik.

Aus dieser Argumentation heraus ergibt sich (nicht nur) für mich die unabdingbare Forderung an Unternehmen, auch aktiv und proaktiv politische Verantwortung zu übernehmen. Argumentativ blicke ich dabei aus mehreren Richtungen auf diese Forderung:

  • ethisch-normativ: Unternehmen sollten dem Ideal des Corporate Citizen entsprechen, können sich von unternehmerischer Verantwortung über das eigene Geschäftsmodell hinaus nicht freisprechen
  • gesetzlich-regelgeleitet: Unternehmen sind im Rahmen der Compliance-Vorgaben an rechtliche Vorgaben gebunden und u.a. in weiten Teilen verpflichtet, etwa einen Nachhaltigkeitsbericht (nicht-finanzielle Berichterstattung) vorzulegen
  • gesellschaftlich-strukturell: Stakeholderverantwortung bedeutet Rollenverantwortung; wenn sich alle Bürger eines Staats als verantwortliche Staatsbürger verstehen, ist die Verantwortung auch in allen Rollen anzunehmen (als Eigentümer eines Unternehmens, als Mitarbeitende, Kunden, Staatsbürger, Teil der Gesellschaft, usw.)
  • empirisch: einmal aus der Tatsache heraus, dass Unternehmen direkt oder über Verbände Lobbyarbeit betreiben; warum es legitim sein sollte, die politischen Gesetzgebungsprozesse beeinflussen, jedoch keine politische (Mit-)Verantwortung übernehmen zu wollen, scheint wenig nachvollziehbar und argumentativ höchst „dünn“ zu sein. Zum anderen ergibt sich (nach meinen empirischen Beobachtungen) das wiederkehrende Bild, dass diejenigen Unternehmen, die regelkonform und darüber hinaus wirtschaftlich tätig sind, auf lange Sicht erfolgreicher sind, gleichzeitig dann auch nicht nach staatlicher Hilfe schreien (müssen), wenn Konsequenzen auf Basis moralisch fragwürdigen Geschäftsgebarens durchschlagen. Ein gutes Negativ-Beispiel (!) dafür ist die Automobilbranche: die Vorgaben für das Auslaufen des Verbrenners wurden durch die Lobby zugunsten der Renditen für die Eigentümer erfolgreich verwässert; sollten die Automobilhersteller in der E-Mobilität den Anschluss an China dann aber endgültig verloren haben, wird heute schon absehbar wieder nach staatlicher Hilfe gerufen (mit dem Totschlagargument der Arbeitsplätze)
  • handlungstheoretisch: auch die Folgenverantwortung für bewusste Handlungen ist in die Betrachtung mit einzubeziehen; selbst wenn dem kurzfristige Vergütungsmodelle in Unternehmen entgegenstehen, sind die handelnden Personen auch von einer Zukunftsverantwortung nicht freizusprechen.

In der deutschsprachigen Literatur werden alle diese Punkte spätestens seit den 1970er-Jahren und dem „Prinzip Verantwortung“ (1979) von Hans Jonas diskutiert. Christian Neuhäusers Monographie „Unternehmen als politische Akteure“ kann im Zuge dessen als neuere Quelle ebenso genannt werden, wie eben Peter Ulrichs „Integrative Wirtschaftsethik“ (2016) und auch Lisa Herzogs „Die Rettung der Arbeit“ (2019). Die Autorin stellt darin die Forderung nach Demokratisierungsprozessen in Unternehmen auf, um vor allem der Digitalisierung der Arbeitswelt (menschen-)gerecht zu begegnen.

Interessant ist, dass sich auch in den traditionell stakeholderorientierten Business-Ethics-Ansätzen im angelsächsischen Raum Gedanken zur politischen Verantwortung von Unternehmen finden. Zurückbinden lässt sich das bis auf J.S. Mill, der Unternehmen öffentliches Eintreten für das Gemeinwohl ins Pflichtenheft geschrieben hat (1859/2011). Exemplarisch an neueren Quellen sei ergänzend Michael Sandel mit seinem Plädoyer der Nicht-Neutralität von Märkten genannt (2011). Aktuell reüssieren zudem Andrew Crane, Dirk Matten et al. (2016) mit der Forderung an Unternehmen, staatliche Regelungslücken proaktiv (!) verantwortungsbewusst zu füllen.

Zum Weiterlesen

Die Studie „ESG 2025 – Relevant, Herausforderungen und strategische Perspektiven in deutschen Unternehmen“, von Prof. Dr. Markus Scholz (TU Dresden) und Steffen Braun (Executive Vice President Civey) lädt nicht zum Optimismus ein, ist gleichzeitig aber höchst aufschlussreich. Zu beziehen hier: Prof. Dr. Markus Scholz — Professur für Betriebswirtschaftslehre, insb. Responsible Management — TU Dresden.

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Nachbemerkung: Der Beitrag ist entstanden aus einem Impulsvortrag anlässlich der Philosophischen Stunde des VPU – Verband für Philosophie und Unternehmensberatung e.V. Die Philosophische Stunde ist ein wiederkehrendes Format und offen für alle Interessent:innen. Die Aufzeichnungen der inhaltlich und thematisch vielfältigen bisherigen Impulsvorträge lassen sich auf dem YouTube-Kanal des VPU abrufen. Der Mitschnitt dieses Beitrags findet sich hier: Philosophische Stunde Juni 2025: Die politische Verantwortung von Unternehmen.

Der Beitrag findet sich in ähnlicher Form hier: https://philosophie-und-unternehmensberatung.de/category/blog/

Darf sich die Schweiz aus dem Pariser Klima-Abkommen freikaufen?

Die Schweiz lagert in großem Stil Maßnahmen an ärmere Länder aus, um die im Pariser Abkommen festgelegte CO2-Reduktion nicht im eigenen Lande umsetzen zu müssen, dennoch die vereinbarten Ziele zu erreichen. Rechtlich ist das möglich (Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens), moralisch aber vollkommen fragwürdig. Ausgelagert (und bezahlt) werden Maßnahmen u.a. nach Ghana, Peru, in den Senegal oder nach Vanatu, und damit in Länder, die (erwartungsgemäß) künftig noch stärker unter dem Klimawandel leiden werden als das, was wir den „globalen Norden“ nennen. Ungleich stärker somit als die Schweiz, die gleichzeitig aber für einen viel höheren CO2-Ausstoß sorgt als die Länder, die für die Schweiz CO2 sparen sollen.

Gleichen wir dieses Verhalten doch mal ab mit verschiedenen ethischen Strömungen und deren Prämissen:

  • Tugendethik: Ein solches Handeln kann nicht tugendhaft sein und zu einem gelungenen Leben führen im Sinne dessen, was ursprünglich der Philosoph Aristoteles damit im Sinn hatte. Welche Tugend sollte mit einem solche Handeln auch einhergehen? Das Maß, die rechte Mitte also wird hier in keiner Weise gefunden.
  • Pflichtethik: Nach Immanuel Kant geht es stets um das Gesollte. Der Zweck heiligt niemals die Mittel, vielmehr müssen die Mittel der inneren Instanz („Was soll ich tun?“) standhalten. Gleichzeitig müssen Handlungen dabei der allgemeinen Vernunft standhalten. Wenn alle Staaten jedoch handeln würden, wie die Schweiz, könn(t)en wir das Pariser Abkommen unmittelbar beerdigen.
  • Fürsorgeethik: Fürsorgliches Handeln umfasst diverse Aspekte, wie die Tugend und die Vernunft, aber auch die Nächstenliebe, die Übernahme von Verantwortung oder den Wunsch nach einem guten Leben. Und diese Fürsorge kann in einer globalisierten Welt nicht auf nationales Wohl, einen nationalen Gedanken begrenzt bleiben.
  • Allein im utilitaristischen Gedankengut kann man Begründungsansätze finden, die das Verhalten der Schweiz in Ansätzen rechtfertigen; wenn (!) der CO2-Ausstoß auch durch die Auslagerungsmaßnahmen weltweit sinkt, ist ein Nutzen vorhaben und die Menschen in den Ländern, in die der Klimaschutz ausgelagert wird, profitieren in Teilen (und zumindest aktuell) von den Investitionen des „globalen Nordens“.

Im Zusammenhang ist diese fragwürdige (wie schon gesagt rechtlich durchaus zulässige) Praxis in Verbindung mit weiteren Fragestellungen zu beurteilen: dazu gehören neben den Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft lokal und global Gerechtigkeitsaspekte oder auch die Normen, nach denen Menschen in Politik, aber auch in der Wirtschaft entscheiden.

Die Frage bleibt also bestehen: Darf sich die Schweiz aus dem Parier Klimaabkommen freikaufen? Ich denke nein, da die Nutzung dieser Möglichkeit jede Bemühung zum Klimaschutz konterkariert. Die Schweiz hatte sich sogar erheblich für die Einführung des genannten Artikel 6 des Pariser Abkommens eingesetzt, und somit von Anfang an nicht global tugendethisch, deontologisch oder fürsorglich gedacht. Und zukunftsfähig ist dieses Handel in keiner Weise.

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Zum Weiterlesen:

Ein interessanter Artikel zum beschrieben Sachverhalt erschien unter der Überschrift „Saubere Bilanz“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe 32/2023.

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Die Verantwortung in der katholischen Kirche.

Die Versuche der Leugnung und Vertuschung des jahrzehntelangen sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche sind endgültig gescheitert. Wie lassen sich die aktuellen Verteidigungslinien der damals und heute Verantwortlichen ethisch einordnen?

Die lange Zeit des Verschweigens, des Vertuschens und des Leugnens der maximalen Verfehlungen in der Katholischen Kirche ist in Deutschland zumindest zu Ende. Das von der Diözese München und Freising selbst in Auftrag gegebene Gutachten, das die Kanzlei WSW erstellt hat, beweist endgültig, was Opfer und Opfervertreter schon lange berichtet haben – den massiven sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener durch Geistliche der katholischen Kirche. (Kirche – München – Missbrauchsstudie: Mindestens 497 Opfer im Erzbistum München – Bayern – SZ.de (sueddeutsche.de) Bemerkenswert an dem Gutachten ist vor allem, dass es konsequent die Opferperspektive einnimmt. Damit wird explizit aus der Opfersicht berichtet und argumentiert und das trägt ganz erheblich dazu bei, dass den Menschen, die hier lebensprägendes Leid erfahren mussten, (endlich) geglaubt wird. Auch wenn das gerade den staatlichen Strafverfolgungsbehörden die Schamesröte ob der laschen Ermittlungen und der wohl oftmals kirchengefälligen Richtersprüche vieler vergangener Jahrzehnte in die Gesichter treiben müsste, soll hier und nachstehend die Katholische Kirche im Fokus stehen.

Dabei möchte ich lediglich auf zwei Punkte vertieft gehen. Einmal eine Aussage von Joseph Ratzinger (Erzbischof von München und Freising von 1977-1982, der Bruder des ehemaligen Wehrmachtssoldaten und als „Prügel-Schorsch“ bekannt gewordenen Priesters Georg Ratzinger Nachruf auf Georg Ratzinger: Gnade ihm Gott – taz.de). Und zum anderen eine Aussage von Reinhard Marx, dem seit 2008 und aktuell noch amtierenden Erzbischof eben dieser Diözese.

So ließ der „emeritierte“ Papst Ratzinger aktuell verlauten, das, was vielfach als sexueller Missbrauch berichtet wurde, sei – im damaligen juristischen Sinne – gar nicht als Missbrauch anzusehen und daher nicht strafbar gewesen. (Dass Ratzinger sofort nach seiner schriftlichen Stellungnahme an die Kanzlei WSW einer Falschaussage in anderem Kontext überführt wurde, obwohl er sich doch angeblich so gut an alles erinnern könne – geschenkt.) Und Marx ließ verlauten, alle die Verfehlungen der Geistlichen seien einem „Systemversagen“ innerhalb der Kirche geschuldet. Auch wenn das – meiner Meinung nach – Unsinn ist, wie ich unten aufzeigen werde, so konnte sich Marx wenigstens zu einer erneuten persönlichen Entschuldigung durchringen; das ist zumindest eine Geste, die Joseph Ratzinger bis heute nicht zustande gebracht hat. Zur Zusage einer erhöhten finanziellen Entschädigung der Opfer sexualisierter Gewalt in der Katholischen Kirche konnte sich Marx dagegen nicht überwinden.

Schauen wir uns die beiden oben genannten, exemplarischen Aussagen genauer an:

Ob etwas juristisch als strafbar anzusehen ist, ist einerseits selbstverständlich Bestandteil des Rechtssystems, der Gesetzeslage und der Rechtsprechung – so diese angewandt wird. Dass nicht alles, was (juristisch vielleicht) nicht verboten, auch geboten ist, ist die andere Seite. Kommen wir kurz zurück auf den „Prügel-Schorsch“ Georg Ratzinger: Dieser hat sich bis zu seinem Tod 2020 damit gerechtfertigt, sog. Backpfeifen seien ein übliches Erziehungsmittel der damaligen Zeit gewesen. Selbst wenn dem so war, gab es jedoch auch damals keinesfalls ein Prügelgebot und auch schon gewaltfreie Erziehung bzw. Erzieher:innen, die menschlich und seelisch ausreichend reif waren, sich nicht an Schwächeren zu vergreifen. Ein anderes drastisches Beispiel, das verdeutlicht, wie moralische Verfehlungen und gar Verbrechen nachträglich aus der Zeit heraus gerechtfertigt werden sollten: Mit dem Argument, man habe seinerzeit im Sinne des aktuellen Rechtssystems gehandelt, haben bereits die Richter der NS-Zeit versucht, sich im Rahmen der Verantwortung für ihre im wahrsten Sinne des Wortes unmenschlichen Todesurteile im Dritten Reich nachträglich zu exkulpieren. Der ergänzend ethische Aspekt kann und darf hier aber nie außer Acht gelassen werden. Und damit zurück zur sehr eigennützigen Auslegung dessen, was früher als sexueller Missbrauch anzusehen gewesen sein sollte. Zumindest katholisch-sozialethisch gebildet ist Joseph Ratzinger ganz sicherlich, zudem hat er Philosophie studiert. Man darf also fest davon ausgehen, dass er sehr gut über die großen ethischen Paradigmen Bescheid weiß. Und dass „nackte Priester mit Pornoheften neben Kindern“  Münchner Missbrauchsgutachten: „In einen Dunkelraum hineingeleuchtet“ – München – SZ.de (sueddeutsche.de) in keinem Falle – noch unabhängig jeder juristischen Bewertung – irgend geartet moralischen Anspruch erheben können, ist offenbar. Weder einer Idee der Tugend noch einer Verantwortungsethik entspricht dieses Bild; einer Nutzenethik entspricht das allenfalls auf der Ebene bloßer individuell-hedonistischer Befriedigung (eine solche ist für katholische Priester in Richtung körperlicher Sexualität schon auf erwachsener Basis zwischen zwei sich liebenden Menschen systemimmanent jedoch nicht vorgesehen), keinesfalls aber auf einer Ebene mit universalgültigem Anspruch und dem Ziel kollektiver Nutzenmehrung. Eine Idee der Fürsorge kann damit ebenso wenig verbunden werden, wie ein Konzept, das die Würde des anderen Menschen unabdingbar achtet. Welche Ansprüche sollte man allerdings an Seelsorger haben, wenn nicht exakt diese? Ratzinger ist sich dessen sehr wohl bewusst, man mag sich gar nichts anderes vorstellen. Somit stecken in seinen Aussagen zum einen wohl Kalkül (das hier sicherlich nicht angebracht ist, zumal eben für einen Seelsorger) und damit wieder bloß kirchlicher Eigennutzen, zum anderen die Weigerung der Übernahme von Verantwortung, was uns direkt zu Reinhard Marx führt.

Marx nennt das Versagen der Kirche und ihrer Institutionen ein „systembedingtes“. Damit wird die Verantwortung an ein System abgeschoben, in dem es zu den massiven Verfehlungen und Straftaten sowie den systematischen Vertuschungen kommt. Was Marx hier (sicherlich nicht unabsichtlich) vollkommen verkennt, ist die Verantwortung des Einzelnen. Und damit meine ich einerseits selbstverständlich die Verantwortung der Vorgesetzten in der Kirche, die pathologische, unmoralische und strafbare Handlungen geduldet und nicht konsequent darauf reagiert haben. Auf der anderen Seite gibt es aber ebenso die unbedingte Verantwortung des einzelnen Priesters. Verantwortung in der einfachsten Dimension meint, sich verantwortlich zu fühlen und sich als Handelnder für etwas vor einer Instanz rechtfertigen zu müssen. Diese Instanz kann einmal eine innerkirchliche Instanz sein, selbstredend Recht und Gesetz (die Strafverfolgungsbehörden haben wohl vielfach versagt) oder – man höre und staune – das eigene Gewissen. Und wenn einem das eigene Gewissen in Verbindung mit Aspekten wie Verantwortungsbewusstsein, Empathie, echter Fürsorge, Mitleid oder Mitgefühl nicht vorgibt, Schutzbefohlene nicht zu schlagen (vgl. „Prügel-Schorsch“ weiter oben) oder sich an diesen nicht sexuell zu vergreifen – ja dann sind unabdingbar die Institutionen gefordert. Und dann gilt es nicht zuletzt zu überlegen, ob der Einzelne für seinen Beruf in der Kirche und am Menschen menschlich ausreichend qualifiziert ist – und zwar auf jeder hierarchischen Ebene, vom Priesterschüler über den Chorleiter, den Erzbischof bis zum Papst. Diese Verantwortung oblag und obliegt dem einzelnen Vorgesetzten und unterliegt wiederum gleichzeitig der gewissenhaften, verantwortungsbewussten Selbstbefragung. Sich individuell hinter einem angeblichen Systemversagen zu verstecken ist (so wie ich das sehe) feige und keines ernsthaften Vorgesetzten würdig, ob innerhalb oder außerhalb kirchlicher Bezüge.

Und deswegen ist dieser Artikel auch übertitelt mit „Die Verantwortung in der Kirche“, nicht bloß mit „Die Verantwortung der Kirche“. Verantwortlich ist streng genommen niemals eine Institution, es sind stets die handelnden Menschen, die diese Institution konstituieren.

Nachtrag 04.02.2022: Es wird nicht besser. https://www.spiegel.de/panorama/justiz/missbrauchs-skandal-aufregung-ueber-regensburger-bischof-voderholzer-a-e879fc76-22ef-4bec-8956-b64144a96108

Update 08.02.2022: https://www.spiegel.de/panorama/papst-benedikt-xvi-bittet-opfer-um-entschuldigung-a-17b8a130-4d33-4b7d-ae6c-d46d5c2b1066

Lesetipp:

Sehr lesenswert ist der Blogartikel eines Kollegen zum Thema; Michael Rasche, selbst ehemaliger Priester, hat sich sehr intensiv mit den aktuellen Entwicklungen auseinandergesetzt:

Ein moralischer Selbstmord – Katholische Kirche und der Missbrauch | Michael Rasche

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