Helmut Schmidt mit John Stuart Mill.

Nachbetrachtungen zum Tode und des deutschen Bundeskanzlers (a.D.) Helmut Schmidt 2015.

John Stuart Mill war Nationalökonom und Philosoph, er setzte sich bereits Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts in England für Sozialreformen und das Wahlrecht für Frauen ein. Mill galt als pragmatischer Politiker, er vertrat einen liberalen Utilitarismus. Sein Lebensthema war die Freiheit des Menschen. In seinem Buch „Über die Freiheit“ entwickelte John Stuart Mill ein damals weitgehend bahnbrechendes Menschenbild.

Wenn Pragmatismus in der Politik als Gütezeichen gelten soll: Als Rückbetrachtung zum Tode des deutschen Alt-Bundeskanzlers Helmut Schmidt erschienen in vielen deutschen, aber auch internationalen Gazetten Nachrufe, Berichte über ein langes Leben und es kamen Wegbegleiter Schmidts zu Wort. Oft fielen dabei Worte wie eben „Pragmatismus“, aber auch „scharfer Verstand“, „Eloquenz“, „Kultur und Bildung“. Am deutlichsten las sich ein Nachruf im britischen Telegraph, der Schmidt als „Terrier“ charakterisierte, der unduldsam gegenüber Mittelmäßigkeit und sich seiner Größe im Verhältnis zu anderen Politikern durchaus bewusst gewesen sei. Schmidt galt als eben pragmatischer Politiker. Seine Positionen vertrat er dabei selbstbewusst und unbeirrt, man denke an den NATO-Doppelbeschluss, der letzten Endes mit zur Gründung der „Grünen Partei“ in Deutschland beigetragen und der SPD sicherlich Wählerstimmen gekostet hat.

Fast mitleidsvoll musste man dann die letzten Jahre die Auftritte Schmidts in diversen Fernsehformaten verfolgen, in denen er sich als sturer und zuletzt wirrer alter Mann präsentierte, der unablässig rauchend als Abklatsch seiner selbst, aus der Zeit gefallen, herumsaß und dargeboten wurde. Fast genauso mitleidsvoll möchte man aber all´ den Konservativen begegnen, die Schmidt während seiner politischen Laufbahn maximal bekämpft haben – man denke nur an das konstruktive Misstrauensvotum und die Inthronisierung von Helmut Kohl als Bundeskanzler im Oktober 1982. Und eben diese Konservativen, deren politische Nachkommen und deren Medien (BILD-Zeitung) schrieben Schmidt dann in seinen letzten Lebensjahren eine Vorbildfunktion als moralische Instanz ins Buch. Eine Gefahr ging dann ja nicht mehr aus von Schmidt. Puren Opportunismus nenne ich das – damals wie heute.

Die Frage, die sich stellt, ist diese: Würde ein Politiker wie Helmut Schmidt heute gewählt werden? Und warum ist die Mehrheit der Deutschen letztlich zu Schmidt-Fans mutiert, quer durch alle Schichten, über alle Parteigrenzen hinweg?

Meine Antwort unter Beobachtung der aktuellen politischen Landschaft lautet: Nein, solche Politiker gibt es derzeit nicht. Politiker, die Pragmatismus mit Visionen, Standpunkte mit Kompromissbereitschaft und persönlichen Einsatz mit Vorbildfunktion verknüpfen, unabhängig des Zeitgeistes, der politischen Berichterstattung und aktueller Umfragewerte. Vielleicht gibt es eine Sehnsucht der Menschen nach Politikern dieses Schlags? Wenn tatsächlich charismatische Persönlichkeiten auftauchen, dann meist in tatsächlich „neuen“ politischen Gruppierungen und das Argument der drohenden Radikalisierung wird dann sofort herausgeblasen. Im konservativen Dunst, den es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der heute noch bestehenden Form in Deutschland gibt, wird jede Neuerung, jede noch so kleine Gefahr einer Revolution der bestehenden Verhältnisse als unabdingbar im Chaos endend gebrandmarkt. Dabei gehört selbstverständlich jede Ideologie, die sich von universalen Menschenrechten verabschiedet, diese negiert oder nur ausgewählten Menschen zuschreibt, tatsächlich bekämpft.

In der Geschichte der BRD hat es mit der Grünen Partei nur eine Partei gegeben, die es gegen die herrschende Meinung und trotz aller Anfeindungen, Verleumdungen und Bekämpfungen geschafft hat, sich in die politische Situation tatsächlich neu zu inkorporieren. Gescheitert sind die anderen Parteien entweder an Verbotsverfahren (wie die KPD 1956) oder an der eigenen Unfähigkeit (wie die Piraten-Partei). Wohin sich letztlich die – radikale – NPD (Verbot?) und die AfD (Unfähigkeit?) entwickeln, bleibt aktuell zu beobachten und maximal kritisch zu begleiten.

Aber auch innerhalb der sog. etablierten Parteien wird jede Form der Nicht-Konformität, der Unangepasstheit, jede Form neuer Ideen, sofort unterdrückt. Wie sollen da Individualität, Kreativität, Eigenständigkeit im Denken, Esprit, schlicht: wirkliche Persönlichkeiten gedeihen?

Zurückkommend auf John Stuart Mill: Wenn man sich das „verwaltende Personal“ der deutschen Parteien anschaut, gibt es meines Erachtens niemanden, der sich intellektuell und seine Persönlichkeit betreffend mit Politkern vom Schlage Helmut Schmidts messen könnte. Mill schreibt: „Wenn man die Dinge nüchtern betrachtet, so muß man sagen: wieviel Huldigung auch der wahren oder angenommenen geistigen Überlegenheit dargebracht wird, so strebt die allgemeine Neigung doch dahin, der Mittelmäßigkeit die größte Macht über die Menschen zu geben.“ (S. 93)

Allerdings: Ist das wirklich zu bedauern? Oder bekommen wir nicht genau die Politiker, die wir uns als Ganzes, als Gesellschaft suchen?

Wenn es also tatsächlich eine Sehnsucht nach anderen Politkern gibt, die Pragmatismus mit Standhaftigkeit, Überzeugungen mit Eloquenz verbinden, dann ist diese Sehnsucht allenfalls eine diffuse. Als nüchtern würde ich die zitierte Passage Mills nicht bezeichnen, vielmehr als angemessen pessimistisch und als nach wie vor real: Gesucht bleibt meist die Mittelmäßigkeit, die anpassungsfähig mit den Medien, den Meinungen, den Menschen umgehen kann, die niemanden wirklich intellektuell und emotional (Herz und Verstand) fordert, die die Bevölkerung in der Mehrzahl in ihrer – wohl nachvollziehbaren – bestenfalls Mittelmäßigkeit abholt, sofern der Gang an die Wahlurne überhaupt noch angetreten wird.


Zum Weiterlesen:

John Stuart Mill: Über die Freiheit. Hamburg 2011


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Autor: andersdenkenmuenchen

Dr. Alexander Braml, München Freiberufler im Bereich Beratung - Coaching - Seminare und Trainings mit Schwerpunkt auf allen Themen rund um Nachhaltigkeit und Unternehmensethik. Davor 20-jährige Tätigkeit in der freien Wirtschaft. Doktor der Philosophie mit einer wirtschaftsethisch-handlungstheoretischen Arbeit. Betriebswirtschaftliche, kulturwissenschaftliche und philosophische Studiengänge in Hagen und München. Studienleiter und Dozent in der Erwachsenenbildung, Inhaber diverser Lehraufträge an Hochschule und Universität. Kontakt: ab@logos-strategie.de. www.logos-strategie.de

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