Die neue bayerische Leitkultur.

Der Bayerische Landtag hat Anfang Dezember 2016 nach langer, erbitterter Debatte und ausdrücklich gegen die Stimmen der Opposition, gegen alle Experten, gegen Vertreter von Kirchen, Verbänden, Organisationen – dabei jedoch unter dem Applaus der AfD – das sogenannte neue bayerische „Integrationsgesetz“ beschlossen.

Integration findet schon immer statt, wird seit jeher menschlichem Dasein immanent gelebt. Jeder Umzug, da muss man nicht an Flucht und Vertreibung, sondern nur an den Umzug in einen anderen Stadtteil denken, verlangt ein Maß an Integration und diese verlangt allen Beteiligten viel ab. Funktionierende Integration ist mit gegenseitiger Rücksichtnahme, Toleranz und Offenheit unabdingbar verbunden. Warum man für solche Selbstverständlichkeiten im Jahr 2016 plötzlich ein – noch dazu singuläres – Landesgesetz braucht, erschließt sich intuitiv nicht; aber man kann sich die Inhalte dieses neuen Gesetzes ja mal ansehen.

In diesem heißt es ganz zu Anfang (Präambel):

„Ganz Bayern ist geformt von gewachsenem Brauchtum, von Sitten und Traditionen. Dieser identitätsbildende Grundkonsens wird täglich in unserem Lande gelebt und bildet die kulturelle Grundordnung der Gesellschaft (Leitkultur). Diese zu wahren, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern und Migrantinnen und Migranten zu einem Leben in unserer Gesellschaft zu befähigen, ist Zweck dieses Gesetzes.“

Im Vorfeld der Verabschiedung war kein einziger Abgeordneter, kein Regierungsmitglied der CSU in Bayern in der Lage, den Begriff der „Leitkultur“ zu definieren. Ein gewisser Markus Blume, der in der Partei für sog. „Grundsatzfragen“ verantwortlich ist, ließ sich wie folgt zitieren: „Die Werteordnung und Prägung des Landes anerkennen, kulturelle Traditionen respektieren, sich an die Gepflogenheiten des Alltags halten, andere Lebensweisen tolerieren.“ (SZ vom 25.09.2016) Gut, aber: „Sich an die Gepflogenheiten des Alltags halten“ – ja, gerne, aber will sich Herr Blume tatsächlich an die Gepflogenheiten meines Alltags halten? Oder welchen Alltag meint er? Seinen? Den seiner Frau? Den in der Schule am Elisabethplatz, genauer im dortigen Sekretariat? Den aller Bewohner des Hauses in der Blumenstraße 13? Und „andere Lebensweisen tolerieren“ – auch gerne, aber das ist es ja gerade nicht, was die CSU mit dem Gesetz bezweckt, außer es handelt sich um unsere Lebensweise.

Einige Regelungen im Detail:

Zur Präambel:

„Ganz Bayern ist geformt von gewachsenem Brauchtum, von Sitten und Traditionen“. Ja, ganz Bayern, wie ebenso ganz Hessen, ganz Niedersachsen, ganz Deutschland, ganz Europa, ganz Timbuktu und die ganze Welt seit der Besiedelung durch den Menschen geformt wurde und wird. Kultur ist immer etwas Gewachsenes, hat sich immer weiterentwickelt und wird sich immer weiterentwickeln – und gerade auch in Bayern mit beeinflusst durch Flüchtlinge und Immigranten, was zumal der CSU durch die historische Verbundenheit mit den zu uns geflüchteten, heimatvertriebenen Sudetendeutschen (und zumeist CSU-Wählern…) bewusst sein sollte. Warum eine solche banale Selbstverständlichkeit in der Präambel?

Zum Artikel 1:

Integrationsziel ist es, „in Bayern berechtigt Schutzsuchenden das Leben zu erleichtern, aber…“ – Ja, was, wieso dann „aber“? Natürlich haben sich Flüchtlinge zu integrieren. Das verlangt nicht nur der gesunde Menschenverstand, das verlangt auch ein gewisser sozialer und finanzieller Druck und im letzten Schritt auch unsere Rechtsordnung. Und (nahezu) alle Flüchtlinge tun das auch, wie ich zwischenzeitlich auch aus eigener Erfahrung in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe weiß. Und natürlich muss gegenläufig Unterstützung diesbezüglich geboten werden. Aber einen Menschen, der meist unfreiwillig sein Land und sein Eigentum verlassen hat, nahezu immer traumatisiert ist, großes Leid, Unsicherheit und Ängste durchlebt hat und das noch im Zuge einer Globalisierung, die vor allem bayerischen Waffenschmieden hervorragende Geschäfte beschert, einen Menschen, der versucht, sich eine irgend geartete neue Existenz in der Fremde aufzubauen, gesetzlich auf eine unbestimmte Leitkultur („Gepflogenheit des Alltags“) zu verpflichten, von der nicht einmal die Gesetzesväter wissen, was diese eigentlich genau ist, das ist menschverachtend und absolut mitleidslos.

Nebenbei, was auch festzustellen ist: Benachteiligte Gruppen aus politischen Gründen gegeneinander auszuspielen ist zynisch. Es ist Fakt, dass es Menschen in Deutschland und auch in Bayern gibt, die am oder unterhalb des Existenzminimums leben, keine Chance haben, auch mit dem Mindestlohn oder mit ihrer Rente ein annähernd würdiges Leben zu führen, ihren Kindern kaum Zukunft bieten oder bieten können oder gar ganz abgehängt sind. Ja, diese Menschen werden meist in einer Weise von unserem sozialen Netz aufgefangen, damit gleichzeitig aber in der Spirale gehalten und das absehbar auf die nächsten Generationen, wie die nicht vorhandene Bildungsdurchlässigkeit belegt. Aber Ängste zu schüren, Flüchtlinge würden „uns“ etwas wegnehmen oder gar mehr bekommen, als hier Geborene (eine Angst, die übrigens ironischerweise gerade auch bei sehr Wohlhabenden vorhanden ist), ist zynisch und fahrlässig. Zumal die CSU in Jahrzehnten in der Regierung oder Regierungsbeteiligung in Bund und Land genau diese Zustände mit hervorgebracht und bis heute kein wirkliches Interesse an einer Änderung hat.

Es geht im deutschen Migrations-/ Asylrecht immer um berechtigt Schutzsuchende nach dem Grundgesetz, also um politisch Verfolgte, um Menschen, die Folter erlitten haben, vor Krieg fliehen oder ganz allgemein um Leib und Leben fürchten. Was gibt es da zu diskutieren, zumal es mit der sog. „Drittstaatenregelung“ ohnehin schon zu einer massiven Einschränkung gekommen ist? Und wie wir künftig mit den sog. „Wirtschaftsflüchtlingen“ umgehen werden (müssen) – wie auch immer eine solche Bezeichnung für Menschen jemals passend (definiert) sein sollte – bleibt abzuwarten. Die Hoffnung, auf Dauer unseren Lebensstandard zu Lasten der Ärmsten dieser Welt aufrecht zu erhalten, wird eine trügerische sein.

Artikel 4:

Hier verpflichtet sich der Staat ausdrücklich nicht dazu, Deutschunterricht anzubieten, stellt die Nichtteilnahme an diesen Kursen für die Migranten aber unter Leistungsvorbehalt. Ja gut, an einem Kurs, den es nicht gibt, kann der Migrant nun mal nicht teilnehmen, wird dann aber für die Nichtteilnahme finanziell sanktioniert. Andererseits genial: Mit den gekürzten Leistungen an die Migranten kann der Staat wiederum doch Sprachkurse anbieten und somit finanziert sich der Migrant seinen Sprachkurs selbst! Warum ist nur früher niemand auf diesen einfachen Trick gekommen?

Artikel 10:

Hier werden Kitas, Schulen, Hochschulen und die Wirtschaft zur Integration der Flüchtlinge verpflichtet. So weit, so nachvollziehbar. Aber diese Verpflichtung beruht wiederum auf einer Förderung in Richtung der Leitkultur. Einer Leitkultur, die sich als Kultur per se – wie die CSU ja in der Präambel selbst schreibt – entwickelt, also auch durch den Einfluss von Migranten, andererseits von der CSU aber nicht wirklich definiert werden kann. Wer soll das verstehen?

Artikel 17a:

Wenn es sich wirklich, wie postuliert, um ein Integrationsgesetz handeln soll, stellt sich folgende Frage: Warum erhält die Polizei grundsätzlich und immer ab sofort erweiterte Kompetenzen in Flüchtlingsunterkünften? Hier geht es um Abschreckung, nicht um Integrationsgedanken. Hier offenbart sich der wahre Geist dieses Gesetzes als eben nicht Integrationsgesetz sondern als verbriefte Ab- und Ausgrenzung. Hier werden fahrlässig (und letztlich schlicht dumm) Vorurteile befeuert und Ängste geschürt. Denn: Jeder der gegen unsere Gesetze verstößt, wird selbstverständlich bestraft, wie auch bisher schon. Und dazu reichen die vorhandenen Kompetenzen der Polizei vollkommen aus.

Zusammenfassend hat man das Gefühl, dass man Aufklärung, Bildung, Information, parlamentarische und politische Arbeit, Prävention, usw. scheut und dieses Gesetz als vermeintlich einfachen Antwortversuch auf die AfD nach dem Motto „Genau und Jawoll!“ auf den Weg gebracht hat. Vermutlich werden die gleichen Wähler dieses Gesetz gut finden, die wegen des Versprechens der Einführung (!) einer Maut die CSU (als übrigens klassische „Brücken-, und Straßeneinweihungspartei“) gewählt haben, nach dem Motto: „Wenn ich in Italien zahlen muss, dann müssen die Italiener auch bei uns zahlen.“ Diese Logik hat sich mir bis jetzt nicht erschlossen, fußt wohl eher auf derartig kleinkariertem Denken, dass es einem ganz anders werden kann. Denn: Egal, dass deswegen die Maut des deutschen Urlaubers in Italien ja nicht weniger und es absehbar auch zu Mehrkosten für deutsche Autofahrer kommen wird und dass das dann exakt die Menschen sind, die gerne über steigende Kosten der öffentlichen Hand oder Pensionsansprüche deutscher Staatsbediensteter wettern – Hauptsache der Italiener zahlt jetzt endlich auch bei uns! Jawoll!

Nicht umsonst machen sich die Denker seit der Antike Gedanken um Primär- oder Kardinaltugenden, die den Menschen als Menschen ausmachen. Eine mögliche Aufzählung wäre die Siebenzahl der weltlichen und christlichen Tugenden, die da sind: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung, Glaube, Hoffnung, und Liebe. Und diese Tugenden sind universal.

Wiederkehrend jedoch, wenn es in Gesellschaften an einer Ausbildung der menschlichen Primärtugenden mangelt, werden Sekundärtugenden wie beispielweise Fleiß, Pünktlichkeit oder Disziplin und damit vermeintlich bürgerliche Tugenden oder auch Traditionen (Gepflogenheiten des Alltags!) in Abgrenzung zum Anderen, zum Fremden festgemacht, die rein einer instrumentellen, funktionalen und störungsfreien Aufrechterhaltung einer Gesellschaft, einer Gesellschaftsordnung dienen oder dienen sollen. Und das ist es, was die CSU mit diesem Gesetz bezweckt bzw. den „besorgten Bürgern“ suggerieren will und nichts anderes.

Ohne den deutschen Positivismusstreit der 1970/ 1980er-Jahre hier thematisieren zu wollen, sei nur der Vollständigkeit darauf hingewiesen, dass diese bürgerlichen Sekundärtugenden im Wesentlichen dem „Katalog der preußischen Tugenden“ entstammen und protestantisch-calvinistische Wurzeln haben. Ja, hat denn da in der bayerischen CSU niemand nachgedacht? Preußische Tugenden und dann noch protestantisch? Oder werden Preußen und Protestanten zwischenzeitlich etwa als tatsächlich kulturstiftend anerkannt, zumal, wenn es gegen das wirklich Fremde, den – Achtung – Flüchtling! geht? Die Verzweiflung in der CSU muss schon sehr groß sein.

Was wäre denn alternativ, die Menschen auf die Primärtugenden oder einen Teil davon zu verpflichten, diese zumindest zu stärken? Dazu bräuchte man sich kein Gesetz ausdenken. Hier muss man investieren, ja, vor allem Zeit und Mühe, in eben Kultur, in Köpfe und Gedanken, in Herzen, in Bildung und Wissen, in das Verständnis von Zusammenhängen, in Toleranz und in ein Vertrauen auf die Zukunft und in die Tatsache, dass die Menschen gemeinsam die Möglichkeit haben, sehr viel zu schaffen. Das kostet Zeit und Geld und ist sicherlich mühsam, aber mit einer langfristigen Aussicht auf Erfolg ein aus meiner Sicht unabdingbar anzupackendes und unbedingt lohnendes Projekt!

Zuletzt: Wenigstens gibt es eine Formulierung in diesem Gesetz, die zumindest Anlass zu einem kleinen (oder auch großen) Grinsen bietet. Diese Formulierung wurde sicherlich aus EU-Recht-Konformitätsgründen eingefügt, entfaltet gleichzeitig unter dem Blickwinkel der Leitkulturdebatte wirklich allergrößte Ironie: Die Verpflichtung zu „Grundkursen in Staatskunde“ bei Missachtung der Rechts- aber auch der Werteordnung (!) (Artikel 13) sowie der Besuch von Schwimmbädern erst nach potentieller „Belehrung zu den in den Einrichtungen geltenden Sitten und Gebräuchen“ (Art. 17a) richtet sich ausdrücklich auch an alle EU-Bürger und namentlich auch an Deutsche.

Hervorragend! Ich persönlich empfehle allen CSU-Wählern, zumindest den Vertretern der Einführung eines solchen Gesetzes, den Besuch eines Grundkurses in Staatskunde. Denn diesem Gesetz zu applaudieren, missachtet zumindest meine Werteordnung fundamental.

In diesem Sinne – frohe Weihnachten, allen ein friedliches Fest der Liebe und ein offenes, tolerantes, gutes neues Jahr 2017!


Zum Weiterlesen:

Die Süddeutsche Zeitung in der täglichen Berichterstattung, aber u.a. auch vom 25.09.2016 mit dem Bericht über die verzweifelt und damit urkomisch anmutenden Versuche der CSU, eine explizit bayerische Leitkultur zu definieren. Lesenswert! http://www.sueddeutsche.de/bayern/einwanderung-was-ist-die-bayerische-leitkultur-1.3176129

Die Artikel des neuen „Integrationsgesetzes“ (oder dem, was sich zumindest so nennt), sind entnommen der Augsburger Allgemeinen vom 10.12.2016, S. 12. In dieser Ausgabe findet sich auch ein hervorragender Leitartikel zum Thema des von der CSU zumindest anfangs tolerierten Applauses seitens der AfD zum Gesetzesbeschluss sowie ein Interview mit einem Erziehungswissenschaftler u.a. zur Tatsache, wie auch Migranten (schon immer) die Werte unserer Gesellschaft und die Entwicklung unserer Kultur beeinfluss(t)en.

Nach wie vor lesenswert: Das Deutsche Grundgesetz, das auch aus der Erfahrung des Dritten Reichs (mit den dort postulierten vermeintlich deutschen Sekundärtugenden) genau so und nicht anders geschrieben wurde.

Zum Thema der „Tugenden“ seien exemplarisch empfohlen: Platon, Thomas von Aquin, der Apostel Paulus und natürlich Immanuel Kant, der alleine den guten Willen als Primärtugend gelten lässt.

Zum Begriff der „Werte“ empfehle ich exemplarisch selbstverständlich ebenfalls Platon mit seiner „Idee des Guten“, aber auch Max Scheler und Erich Fromm. Und ganz aktuell hat der Freiburger Philosoph Andreas Urs Sommer eine Monographie veröffentlicht mit dem Titel: Werte, warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt. (Stuttgart 2016) Sommer zeigt u.a. auf, wie sehr moderne Gesellschaften auf immerwährende Wertedebatten angewiesen sind und warum viele Menschen der Meinung sind, dass wir unumstößlich(e) Werte brauchen.


Zum Beitragsbild (Walter Carone: Fernandel als Don Camillo in Cinecittà, Februar 1953, Verlag Gebr. König, Köln): Was wäre denn dann – in Analogie zur vermeintlich speziell bayerischen Leitkultur – eine genuin italienische?
Ich bin überzeugt, die Figur des Don Camillo verkörpert universal viel von dem, was uns allen gut täte und da denke ich nicht zuvorderst an die speziell religiöse Komponente.


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Autor: andersdenkenmuenchen

Dr. Alexander Braml, München Freiberufler im Bereich Beratung - Coaching - Seminare und Trainings mit Schwerpunkt auf allen Themen rund um Nachhaltigkeit und Unternehmensethik. Davor 20-jährige Tätigkeit in der freien Wirtschaft. Doktor der Philosophie mit einer wirtschaftsethisch-handlungstheoretischen Arbeit. Betriebswirtschaftliche, kulturwissenschaftliche und philosophische Studiengänge in Hagen und München. Studienleiter und Dozent in der Erwachsenenbildung, Inhaber diverser Lehraufträge an Hochschule und Universität. Kontakt: ab@logos-strategie.de. www.logos-strategie.de

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