Alles Ideologie – oder was?

Der Vorwurf an andere, bestimmte Positionen aus rein ideologischen Gründen zu vertreten, ist in der politischen Diskussion an der Tagesordnung. Aber was verbirgt sich genau hinter dem Begriff der Ideologie?

In der politischen Debatte taucht wiederkehrend der Vorwurf auf, bestimmte Positionen würden „nur aus ideologischen Gründen“ vertreten und verteidigt. So befand der Bayerische Ministerpräsident Söder (CSU) beispielsweise, dass Deutschland die umstrittenen Möglichkeit des Frackings (also des hydraulischen Aufbrechens tiefer Gesteinsschichten zur Gewinnung fossiler Energieträger) nicht aus ideologischen Gründen ablehnen bzw. an ideologischen Grenzen scheitern lassen sollte. Energie – München – Söder: Fracking in Deutschland ergebnisoffen prüfen – Bayern – SZ.de (sueddeutsche.de)  
Der Phalanx derer, die aus guten Gründen für den Atomausstieg gekämpft, diesen beschlossen und/oder durchgesetzt haben, wird – meist auf Basis kurzfristig aktueller energiepolitischer Entwicklungen – wiederkehrend das Attribut attestiert, aus rein ideologischen Gründen gegen die Energie aus Atomkraft zu sein. CDU debattiert über Atomkraft – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)         
Und ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen (das überparteilich als sinnvoll, nach objektiven wissenschaftlichen Kriterien als nützlich, gewinnbringend, klimaschonend und lebensrettend sowie von einer Mehrheit der Bevölkerung als mitgetragen gilt) lehnte zuletzt Christian Lindner (FDP) ab, da es reine – genau – Ideologie sei. Parteien – Duisburg – Tempolimit und Fleisch: Lindner gegen Diskussion in Krise – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)

Der Begriff der Ideologie wird in der politischen Diskussion also wiederkehrend eingesetzt und das in nahezu allen Fällen, um den politischen Gegner zu diskreditieren. Unterschwellig oder auch ausdrücklich postuliert schwingt immer mit, dass derjenige, der aus „rein ideologischen“ Gründen für oder gegen etwas ist, wahlweise den Fortschritt bremst, die Freiheit des Einzelnen einschränken möchte oder sich vermeintlich objektiv zu verstehenden Begründungen verweigere. Es lässt sich beobachten, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung meist das, was ökonomischen Interessen und damit unserer gegebenen Wirtschaftsordnung zuwiderläuft, als ideologisch im negativ verstandenen Sinne gebrandmarkt wird. Das impliziert, unsere Wirtschaftsordnung selbst wäre gerade keine Ideologie – eine Annahme, die wohl mit keiner der Bedeutungen des Begriffs in Übereinstimmung zu bringen ist, wie wir weiter unten sehen werden.

Aber ist ein solcher Vorwurf haltbar und überhaupt sinnvoll? Ist eine ideologisch geprägte Entscheidung tatsächlich etwas Schlechtes? Kann der Mensch ideologiefrei entscheiden, wenn es beispielsweise um Zukunftsfragen oder wesentliche Lebensentscheidungen ganz allgemein geht? Wie verhält es sich überhaupt mit dem Begriff der Ideologie? Höchste Zeit also, hier einmal hinter die Kulissen zu blicken!

Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet Ideologie schlicht „Ideenlehre“ (idea = Idee, logos = Lehre). Bereits auf Platon (428/427 bis 348/347 v. Chr.) geht die Erkenntnis zurück, dass Ideen nicht mittels reiner Wahrnehmung, sondern nur durch das Denken des Menschen erfasst werden können. Während wir also Dinge, wie zum Beispiel einen Wasserfall oder eine Treppe, durch das Anschauen wahrnehmen können, müssen wir eine Denkleistung erbringen, was ein Wasserfall (etwas Schönes, etwas Wasserspendendes, aber unter Umständen auch etwas Gefährliches) oder eine Treppe (etwas sehr Praktisches) sind, um eine Idee davon zu gewinnen. Genauso verhält es sich mit abstrakten Sachverhalten, wie zum Beispiel der Schönheit. Welcher Idee von Schönheit und Ästhetik hängen wir an, wenn wir jemanden oder etwas, einen Wasserfall zum Beispiel oder eine schwungvoll gestaltete Treppe, als schön ansehen? Aber auch ethische Sachverhalte sind durch uns Menschen erst wahrzunehmen, zu beurteilen und anzuwenden, insofern sie einer Idee unterliegen. Platon zufolge ist die Idee des Guten der Maßstab, an dem das Tun dann ausgerichtet werden muss, will man moralisch handeln.

Soweit die antike Idee Platons, was die Ideologie, also die Ideenlehre betrifft. Der moderne Ideologiebegriff, der unser heutiges Zusammenleben prägt, ist dreifach zu unterscheiden: (1) In den wissenstheoretischen Begriff: Erfasst werden Gruppen von Erkenntnissen, Kategorien oder auch Werten und damit ist die Basis geschaffen für Entscheidungen auf Grundlage dieser, auf (möglichst) wissenschaftlichen Kriterien beruhenden, sich entwickelten und weiterentwickelnden Erkenntnissen, Kategorien und Werten. Zudem (2) zurückgehend auf Francis Bacon (1561-1626) in den Begriff, wie wir ihn heute mehrheitlich und alltagssprachlich verstehen und wie er in der politischen Diskussion meist verwendet wird: als Weltanschauung nämlich, die bloßen Vorurteilen und Täuschungen unterliegt. Und (3) darauf aufbauend als spezifisch instrumentalisierend eingesetzten Begriff: dieser soll in der politischen Diskussion dem Umstand dienen, die eigene Machtbasis zu sichern sowie wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Karl Marx (1818-1883) hat den Begriff in diesem Zusammenhang so definiert, dass die bürgerliche Klasse ihre Vorherrschaft sichern möchte, und zwar auf Basis ihrer eigenen partikulären ökonomischen Interessen, die für allgemeingültig erklärt werden. Wahre philosophische, soziale, politische Erkenntnis der Ideen (vergleiche Platon), auch wahre Erkenntnis der gesellschaftlich-sozialen Strukturen ist auf dieser Basis nicht möglich, da diese Erkenntnis stets den eigenen Machtanspruch, aber auch die eigenen ökonomischen Interessen in Frage stellen würde. Der Status quo soll verteidigt werden.

Interessant ist, dass Karl Marx bereits im 19. Jahrhundert den Zusammenhang hergestellt hat, der bis heute aktuell scheint: gefangen in ihren eigenen Ideologien des Machterhalts und der ökonomischen Interessen stammt der Vorwurf der Ideologie an andere meist aus dem Spektrum der klassisch als bürgerlich zu bezeichnenden Parteien, wie die oben ausgeführten Beispiele (CSU, CDU, FDP) exemplarisch verdeutlichen. Als ob der Vorwurf der Ideologie an andere prophylaktisch verhindern könne, selbst dem Ideologievorwurf ausgesetzt zu sein oder ausgesetzt zu werden.

Kommen wir damit nochmals zurück auf die eingangs erwähnten Beispiele, in denen Anderswissenden der Ideologie-Vorwurf gemacht wird. Fracking ist eine technische Möglichkeit, fossile Energieträger zu gewinnen, widerspricht aber nicht nur der Notwendigkeit einer Energiewende hin zu nachhaltigen Formen, sondern damit ebenso der vielleicht doch noch möglichen Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels der Erderwärmung. Die Abkehr von der Atomkraft aus ökologischen, ökonomischen und zukunftsorientierten Gründen aus heutiger Sicht anerkannt sinnvoll und in der deutschen Bevölkerung verankert, daher läuft der Begriff der Ideologie als Vorwurf ins Leere, wendet sich vielmehr gegen den Vorwerfenden selbst, da dieser der fortschreitenden Erkenntnis nicht Schritt hält. Es werden demgegenüber selbstverständlich auch Gründe ins Feld geführt, Fracking zu betreiben oder die Laufzeit von Atomkraftwerken zu verlängern (wie Fragen der aktuellen Energiesicherung), diese sind aber ebenso ideologisch geprägt, unterliegen selbst einer Idee, jedoch einer (überkommenen) Weltanschauung im Zeitalter Erneuerbarer Energieformen. Technikgläubigkeit, die in den Diskussionen um Atomkraft oder um Methoden wie dem Fracking an den Tag gelegt wird, ist ebenfalls ideologisch geprägt, der Vorwurf – will man einen solchen konstruieren – ließe sich also bestens umdrehen. Und ein allgemeines Tempolimit rettet nicht nur Menschen- und Tierleben, sondern würde auch die Lärm- und Feinstaubbelastung senken, damit zur Gesundheit vieler beitragen, die Abhängigkeit von Öl senken und damit zur Reduzierung des CO2-Verbrauchs beitragen. Das Festhalten am Slogan „freie Fahrt für freie Bürger“ offenbart ein sehr einseitiges Verständnis einer Idee von Freiheit – und ist damit Ideologie. Technikgläubigkeit oder ein sehr eng definierter Begriff persönlicher Freiheit sind also ebenso Ideologien, egal aus welchem Blickwinkel man diese betrachtet.

Es darf und sollte einen Wettstreit um die besten Ideen geben, wobei die besten Ideen den Kriterien der Zukunftsfähigkeit, der Gemeinwohlorientierung und ganz allgemein der unabdingbaren „Lebensdienlichkeit“ (Peter Ulrich) unterliegen müssen. Insofern der wissenschaftliche und technische Stand der Forschung Eingang in die Ideen findet und Bestandteil des kritischen Diskurses unter Berücksichtigung der genannten Kriterien ist, würde das einem positiven Ideologiebegriff folgen. Technik um der Technik willen dagegen bleibt Selbstzweck und es kann sich der Eindruck verfestigen, der Einsatz soll allein dem Erhalt machtbezogener und/oder ökonomischer Vorteile (Energieversorger, Ölproduzenten, Autobauer) dienen.

Wenn ein Politiker oder eine Politikerin einem Politiker oder einer Politikerin eines anderen politischen Lagers also Entscheidungen oder Begründungen aus „ideologischen Gründen“ attestiert und diese Entscheidungen damit bloß diskreditieren will, verkennt diese:r mehrere Punkte:

  1. Alle Entscheidungen, auch die eigenen, unterliegen letztlich und ganz basal ideologischen Gründen, da sie einer Weltanschauung, einem Erkenntnisstand und einer Idee unterliegen. Der eigene Standpunkt ist geschichtlich, gesellschaftlich und sozial ideologisch (geprägt) und daher läuft ein Vorwurf der Ideologie an andere ins Leere. Selbst, wenn man sich selbst attestieren möchte, vermeintlich ideologiefrei zu sein, kann das auf zweifachem Wege widerlegt werden: Wie fatal wäre es denn, würde der Mensch keinerlei Ideen und Überzeugungen anhängen und vor allem neue Erkenntnisse nicht im Rahmen (s)einer Entwicklung einbeziehen? Und insofern man sich selbst als vermeintlich frei von Ideologie definiert, ist auch das bereits wieder Ideologie, nämlich eine bloß idealisierte oder idealisierend gemeinte Idee von sich selbst und auch so kann dieses Argument ad absurdum geführt werden.
  2. Der diskreditierend vorgebrachte Vorwurf der Ideologie ist stets total, da dem anderen die Möglichkeit einer objektiven Beurteilung der Sache abgesprochen wird. Damit handelt es sich um ein sog. Totschlagargument, was der Idee eines seriösen politischen Diskurses widerspricht und – siehe Marx – dem bloßen Machterhalt auf Basis partikulärer Interessen dienen soll.
  3. Wenn eine Entscheidung auf Ideologie beruht, beruht sie – den wissenschaftlichen Begriff von Ideologie heranziehend – bestenfalls auf der Basis fortschreitender Erkenntnis. Der Ideologiebegriff ist dem Grunde nach also etwas sehr Positives, auch wenn er heutzutage mehrheitlich negativ belegt ist oder so verwendet wird.

Mit dem einseitigen Vorwurf an den (politischen) Gegner, aus ideologischen Gründen für oder gegen etwas zu sein, sollte man sich meines Erachtens daher zurückhalten. Denn entweder offenbart die Verwendung dieser Begrifflichkeit Unwissen über den Begriff (was niemand wollen kann) oder er wird rein instrumentalisierend eingesetzt, um den anderen unsachlich, nicht auf Basis des aktuellen Wissens- und Erkenntnisstandes zu diskreditieren und so die eigene Machtbasis zu sichern (was niemand wollen sollte). Kommt beides zusammen, also Unwissenheit und der Versuch plumpen Diskreditierens, wird es bösartig; Dummheit gepaart mit Handeln aus reinem Eigennutzen ist selbstzwecklicher Populismus in seiner niedersten Form und zeugt daneben nicht vom Willen echten politischen Diskurses zum Widerstreit der besten Ideen. Die andere Meinung soll bloß zum eigenen Machterhalt und eventuell auch zur Wahrung der eigenen ökonomischen Vorteile diskreditiert werden.

Die Orientierung an Erkenntnis, an Werten, die Orientierung an Normen und Maßstäben, wie an Platons Idee des Guten (Ethik) und an fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnissen sollten Richtschnur dessen sein, an dem wir unser Handeln ausrichten. Es wird höchste Zeit, dass wir den Ideologie-Begriff als positiven anerkennen und uns durchaus selbstbewusst, stolz und aus guten Gründen, abseits bloßer ökonomischer und machtbasierter Interessen, als Ideologen bezeichnen. Anhand dessen gilt es in der Folge, in den argumentativen Austausch zu gehen.

Objektivität in der Wissenschaft und Subjektivität in der Wahrnehmung bleiben freilich im Gegensatz, die Diskrepanzen in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung erleben wir jeden Tag. Wirtschaftliche Vorteile und Maßnahmen des Machterhalts orientieren sich nicht immer an der Wissenschaft, an einem Prinzip des Guten oder am unabdingbar Lebensdienlichen. Einem positiven Begriff der Ideenlehre folgend kann der schöne, zukunftsorientierte Satz von P. Peter Ehlen SJ aus dem Philosophischen Wörterbuch (Freiburg 2010, Seite 217), zum Nachdenken anregen, will man das nächste Mal einen anderen „bloßer Ideologie“ zeihen:

„Dass […] Erkenntnis den gesellschaftlichen Bedingungen verpflichtet ist, in denen sie vollzogen wird, ist nicht zu bestreiten; zugleich bleibt wahr, dass diese an Normen zu messen und auf sie hin zu verändern sind, die mit dem Faktischen noch nicht mitgegeben sind.“

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Zum Weiterlesen:
Die unbedingte Fortschrittsgläubigkeit im Übrigen ist ein speziell europäisches Phänomen, wie der Islamwissenschaftler Thomas Bauer sehr schön und lesenswert nachgewiesen hat. Auch wenn Fortschrittsgläubigkeit nicht allein auf Technikgläubigkeit zu reduzieren ist, entwickelte sich die Fortschrittsgläubigkeit als Ideologie (!) – verkürzt dargestellt – als eine Art Ersatzreligion seit der Reformation, insofern sich der Mensch nach Eindeutigkeit im Leben sehnt. (Vgl. u.a. Magazin der Süddeutschen Zeitung, Nummer 15/2022, Seiten 28-32.)
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Autor: andersdenkenmuenchen

Dr. Alexander Braml, München Freiberufler im Bereich Beratung - Coaching - Seminare und Trainings mit Schwerpunkt auf allen Themen rund um Nachhaltigkeit, Sinnstiftung und Unternehmensethik. Davor 20-jährige Tätigkeit in der freien Wirtschaft. Doktor der Philosophie mit einer wirtschaftsethisch-handlungstheoretischen Arbeit. Betriebswirtschaftliche, kulturwissenschaftliche und philosophische Studiengänge in Hagen und München. Studienleiter und Dozent in der Erwachsenenbildung, Inhaber diverser Lehraufträge an Hochschule und Universität. Kontakt: ab@logos-strategie.de. www.logos-strategie.de