Kognitive Dissonanz und Umweltbewusstsein.

Menschliches Handeln ist oftmals paradox – so erkennen wir zwar theoretisch und grundsätzlich meist, was richtig und – in einem moralischen Sinne – gut wäre, richten unsere Entscheidungen und Handlungen in der Praxis aber nicht danach aus. Ein Beispiel dafür ist unser Umgang mit der sog. Klimakrise, also der durch den Menschen beschleunigten Erderwärmung. Die irreversiblen Kippunkte der Atmosphäre, an denen eine Entwicklung mit erheblichen negativen Auswirkungen und Folgen für unser Leben schon heute spürbar ist und erwartungsgemäß künftig unausweichlich wird, rücken bedrohlich nahe.
Umweltministerium und Umweltbundesamt erheben seit 1996 alle zwei Jahre in einer repräsentativen Umfrage, was die Bundesbüger:innen im Rahmen des Zustands der Umwelt und bezogen auf das eigene umweltbewusste Verhalten beschäftigt (vgl. Umweltbewusstsein und Umweltverhalten | Umweltbundesamt). Die Wichtigkeit des Themas „Klima- und Umweltschutz“ ist in der letzten Umfrage von 2022 zwar hinter andere, auch aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen (wie etwa die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs) zurückgetreten und hat leicht an Bedeutung verloren. Dennoch taucht das Thema nach wie vor in den Top 5 der wichtigsten Themen auf und wird von 57 % als „sehr wichtig“ eingestuft. Die überwiegende Mehrheit der Befragten fordert darüber hinaus von „der“ (abstrakt gesprochen) „Politik“, dass klima- und umweltschutzbezogene Aspekte in den Entscheidungen eine weitaus größere Rolle spielen sollten als bisher. Das persönliche Verantwortungsgefühl für diese Entwicklungen ist im Zeitverlauf der Befragung dabei gleichzeitig jedoch zurückgegangen. Und gerade im individuellen Konsumverhalten schlagen sich diese Erkenntnisse parallel nicht oder nur teilweise nieder und das schon bei relativ wenig aufwendig umzusetzenden Maßnahmen. So gaben etwa lediglich 46 % der Befragten an, Ökostrom  zu beziehen und gar nur 30 % machten den Elektrogerätekauf für den eigenen Haushalt von der angegebenen Energieeffizienzklasse der Angebote abhängig.

Wie lässt sich jetzt aber diese Diskrepanz zwischen erkannter Bedeutung und dem  Wunsch nach mehr Klimaschutz einerseits und dem eigenen, oftmals in diesem Sinne nicht nachhaltigen Handeln andererseits erklären?  
Ein Grund liegt sicherlich in den Zwängen und Strukturen, die uns umgeben. Wir sind in eine Wirklichkeit hineingeboren, die sich im kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, technischen, globalen usw. Umfeld dahin entwickelt hat, wo wir heute stehen und die sich stetig weiterentwickelt. Die Wirkung individueller Handlungen ist für die/den Einzelne:n oft nicht spürbar und Veränderungen benötigen entsprechend kollektiv anerkannte und durchzusetzende Rahmenbedingungen. In unserer Demokratie ist eine Möglichkeit dessen, das eigene Wahlverhalten entsprechend anzupassen und „der Politik“ damit den entsprechend der Wahlprogramme legitimierten Auftrag zu erteilen. Die aktuellen Entwicklungen diesbezüglich lassen aber wiederum die schon beschriebene Diskrepanz zwischen Wunsch (Klimaschutz) und Wirklichkeit (sinkende Zustimmungswerte und Wahlergebnisse für „grüne“ Themen, vgl. etwa die Landtagswahlen in Bayern und Hessen 2023) erkennen.

Neben der bestehenden externen gesellschaftlichen und politischen Situation kommt daher ein weiterer (interner, psychologischer) Grund zum Tragen, nämlich das, was in der Psychologie als Kognitive Dissonanz bezeichnet wird. Menschen empfinden Situationen, Informationen oder Entwicklungen als unangenehm – wie beispielsweise eben die bereits heute erheblichen, erleb- und spürbaren Auswirkungen der Klimakrise. Gefangen in diesem Gefühl sind viele Menschen bestrebt, diese Dissonanz aktiv zu verdrängen, zu vermeiden oder zu reduzieren, um in einen Zustand innerer „Konsonanz“ (Festinger 1957/1981, 16) zu kommen. Trotz besseren Wissens tragen somit auch empfundene Hilflosigkeit und das Gefühl, einer Situation sowie externem Druck ausgeliefert zu sein, zu den genannten Verdrängungsmechanismen bei. Neben der subjektiv-individuell verständlichen inneren Entlastungsfunktion, die damit einhergeht, führt die Kognitive Dissonanz kollektiv aber zu Fehlentwicklungen und Zuständen, die gerade nicht zukunftsfähig und in diesem Sinne nicht moralisch „gut“ sind. Unbewusste Gründe, die innerlich einer Änderung des bewussten Verhaltens entgegenstehen, liegen (1) in der Angst vor Verlust begründet, zum Beispiel bezogen auf den Verlust des Lebensstandards oder des Wunsches der Beibehaltung eingeübter Muster, (2) der Unlust, sich mit Alternativen, wie  Ökostromangeboten zu beschäftigen und auch (sich selbst) Fehler einzugestehen, oder (3) schlicht in der Unmöglichkeit der Veränderung – zum Beispiel im Rahmen von bestehenden Pathologien oder fehlender Willenskraft (vgl. Festinger 1957/1981, 39f.).

Wie lässt sich dem Tatbestand der Kognitiven Dissonanz mit allen geschilderten negativen Auswirkungen jedoch entgegenarbeiten? Hier bietet die Moralpsychologie in der Verbindung psychologischer und ethischer Aspekte einen  Lösungsweg an. Die Stärke dieses Lösungswegs macht die wechselseitige Verbundenheit individueller und kollektiver Bedürfnisse, aber auch Anforderungen aus. Interne Hürden der Verhaltensänderung von Menschen finden ebenso Eingang, wie externe Zwänge, die uns im Leben und in unseren Handlungen beschränken. Dabei sind diese Veränderungsprozesse überwiegend langfristig zu betrachten – umso wichtiger, dass wir hier endlich aktiv werden, denken wir an die aktuelle, stetig bedrohlicher werdende Situation bezogen auf die Klimakrise.

Um Verhaltensänderungen umzusetzen, werden Motivation sowie Volition benötigt. Menschen müssen motiviert sein, ihre Handlungen nachhaltiger auszurichten und gleichzeitig innere Hürden und externe Zwänge in der Umsetzung volitional, damit willentlich, zu überwinden. Im Rahmen der Motivation geht es um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Darüber hinaus wird in der modernen Motivationsforschung die These vertreten, dass Menschen gleichzeitig soziale Eingebundenheit spüren müssen, um sich tatsächlich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Erst in der Bezogenheit auf andere Individuen kann sich somit die Erkenntnis durchsetzen, dass, und vor allem warum, bestimmte Handlungen als wichtiger und richtiger erachtet werden als andere. Als Gesellschaft und als Individuum sind wir uns jetzt ja bereits durchaus bewusst, dass – um bei einem oben genannten Beispiel zu bleiben – energieeffiziente Hausgeräte sinnvoller sind als Geräte mit hohem Stromverbrauch. Um diese Erkenntnis aber in konkrete Handlungen umzusetzen, müssen Menschen erkennen, dass diese individuelle Handlung als kollektiv sinnvoll anerkannt und respektiert ist, und dass damit höhere, sinnstiftende Ziele (also zum Beispiel ein Beitrag zur Reduzierung von CO2 in der Atmosphäre zum Schutz von Leben) verfolgt werden. Dadurch kann die Motivation steigen, sich in diesem Sinne umweltbewusst zu verhalten und Hürden in der Umsetzung im Anschluss daran willentlich, bewusst also, zu überwinden.

Die Rahmenbedingungen dafür müssen seitens der Gesellschaft und der politische  Entscheidungsträger geschaffen werden; die Gesellschaft selbst wird dabei ja wiederum durch jede:n Einzelne:n von uns erst gebildet, die politischen Würdenträger von jeder/jedem Einzelnen von uns gewählt. Somit wird die wechselseitige Verwobenheit deutlich und die Tatsache, warum es sich bei einer solchen Entwicklung um einen (langwierigen) Prozess handelt: gesellschaftliche Anerkennung bestimmter Verhaltensweisen und die sukzessive Änderung individuell eingeübter Muster und Verhaltensweisen gehen Hand in Hand, ergänzen und bedingen sich gegenseitig.

Bildungsprozesse helfen dabei, erkannte Veränderungsnotwendigkeiten aktiv zu gestalten. Im Wissen um Zusammenhänge können wir zur Erkenntnis gelangen, dass bestimmte (zum Beispiel nachhaltige) Verhaltensweisen besser sind als andere – und das durchaus in einem moralischen Sinne. Je mehr Menschen diese Erkenntnis gewinnen, umso eher werden sich die gesellschaftlichen und damit auch die politischen Prozesse verändern. Welches Verhalten, welche Entscheidung dann als „besser“ zu verstehen sind, bleibt Bestandteil der gesellschaftlichen Diskussionen. Ein Wert, der unabhängig der aktuellen Entwicklungen dabei eine große Rolle für Entscheidungen und im Rahmen der Diskussionen spielt, ist der der Generationengerechtigkeit. Das Ziel eines jeden Menschen und in jeder Generation sollte es sein, über den Wunsch einer zufriedenstellenden eigenen Situation hinaus, auch den Kindern und Enkeln eine lebenswerte Zukunft auf dieser Erde zu erhalten.

(Moralische) Bildung, das Wissen um Zusammenhänge und Notwendigkeiten sowie das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen (Gesellschaft, Zukunft) zu sein, kann Menschen dabei unterstützen, als unangenehm empfundene Situationen (Dissonanzen) auszuhalten. Und diese Punkte können ergänzend dazu führen, die Motivation zu fördern, bewusst gegen diese inneren, aber auch gegen äußere Widerstände anzukämpfen.

Die Rahmenbedingungen dazu sind seitens der Gesellschaft und der Politik zu schaffen. So wird aus der Wissenschaft und in der Forschung etwa die Notwendigkeit einer „sozial-ökologischen Transformation“ propagiert. Die soziale Komponente, damit die Schaffung sozialen Ausgleichs für im weitesten Sinne benachteiligte Menschen und Personengruppen lokal und global ist die Aufgabe, nicht zuletzt wiederum, um die Akzeptanz erkannter Notwendigkeiten im Rahmen von Verhaltensänderungen zu stärken. Somit liegt eine große Verantwortung bei den (gewählten) Entscheidungsträgern in Politik, aber auch in Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft – ohne, dass wir uns als Menschen, Bürger:innen und Wähler:innen letztendlich von unserer eigenen Verantwortung freisprechen können.

Zum Weiterlesen:

Das Standardwerk zum Thema der Kognitiven Dissonanz stammt von Leon Festinger (1957/1978): Theorie der kognitiven Dissonanz. Liebefeld-Bern: Verlag Hans Huber.

Andreas Püttmann (2009): Kognitive Dissonanz. Über unsere verderbliche Neigung, die Kenntnisname von Wirklichkeiten zu verweigern“, in: Die Politische Meinung, Nr. 480, S. 74-76. Der Autor greift weitere (aktuelle) Beispiele auf, inwiefern Wunsch und Wirklichkeit oftmals erheblich auseinanderklaffen.

Die wissenschaftliche Forderung einer sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft lässt sich gut hier nachlesen: Johannes Wallacher (2021): Wie die sozial-ökologische Transformation gelingen kann. In: Stimmen der Zeit 8/2021.
Wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann | Stimmen der Zeit (herder.de)

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Alles Ideologie – oder was?

Der Vorwurf an andere, bestimmte Positionen aus rein ideologischen Gründen zu vertreten, ist in der politischen Diskussion an der Tagesordnung. Aber was verbirgt sich genau hinter dem Begriff der Ideologie?

In der politischen Debatte taucht wiederkehrend der Vorwurf auf, bestimmte Positionen würden „nur aus ideologischen Gründen“ vertreten und verteidigt. So befand der Bayerische Ministerpräsident Söder (CSU) beispielsweise, dass Deutschland die umstrittenen Möglichkeit des Frackings (also des hydraulischen Aufbrechens tiefer Gesteinsschichten zur Gewinnung fossiler Energieträger) nicht aus ideologischen Gründen ablehnen bzw. an ideologischen Grenzen scheitern lassen sollte. Energie – München – Söder: Fracking in Deutschland ergebnisoffen prüfen – Bayern – SZ.de (sueddeutsche.de)  
Der Phalanx derer, die aus guten Gründen für den Atomausstieg gekämpft, diesen beschlossen und/oder durchgesetzt haben, wird – meist auf Basis kurzfristig aktueller energiepolitischer Entwicklungen – wiederkehrend das Attribut attestiert, aus rein ideologischen Gründen gegen die Energie aus Atomkraft zu sein. CDU debattiert über Atomkraft – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)         
Und ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen (das überparteilich als sinnvoll, nach objektiven wissenschaftlichen Kriterien als nützlich, gewinnbringend, klimaschonend und lebensrettend sowie von einer Mehrheit der Bevölkerung als mitgetragen gilt) lehnte zuletzt Christian Lindner (FDP) ab, da es reine – genau – Ideologie sei. Parteien – Duisburg – Tempolimit und Fleisch: Lindner gegen Diskussion in Krise – Politik – SZ.de (sueddeutsche.de)

Der Begriff der Ideologie wird in der politischen Diskussion also wiederkehrend eingesetzt und das in nahezu allen Fällen, um den politischen Gegner zu diskreditieren. Unterschwellig oder auch ausdrücklich postuliert schwingt immer mit, dass derjenige, der aus „rein ideologischen“ Gründen für oder gegen etwas ist, wahlweise den Fortschritt bremst, die Freiheit des Einzelnen einschränken möchte oder sich vermeintlich objektiv zu verstehenden Begründungen verweigere. Es lässt sich beobachten, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung meist das, was ökonomischen Interessen und damit unserer gegebenen Wirtschaftsordnung zuwiderläuft, als ideologisch im negativ verstandenen Sinne gebrandmarkt wird. Das impliziert, unsere Wirtschaftsordnung selbst wäre gerade keine Ideologie – eine Annahme, die wohl mit keiner der Bedeutungen des Begriffs in Übereinstimmung zu bringen ist, wie wir weiter unten sehen werden.

Aber ist ein solcher Vorwurf haltbar und überhaupt sinnvoll? Ist eine ideologisch geprägte Entscheidung tatsächlich etwas Schlechtes? Kann der Mensch ideologiefrei entscheiden, wenn es beispielsweise um Zukunftsfragen oder wesentliche Lebensentscheidungen ganz allgemein geht? Wie verhält es sich überhaupt mit dem Begriff der Ideologie? Höchste Zeit also, hier einmal hinter die Kulissen zu blicken!

Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet Ideologie schlicht „Ideenlehre“ (idea = Idee, logos = Lehre). Bereits auf Platon (428/427 bis 348/347 v. Chr.) geht die Erkenntnis zurück, dass Ideen nicht mittels reiner Wahrnehmung, sondern nur durch das Denken des Menschen erfasst werden können. Während wir also Dinge, wie zum Beispiel einen Wasserfall oder eine Treppe, durch das Anschauen wahrnehmen können, müssen wir eine Denkleistung erbringen, was ein Wasserfall (etwas Schönes, etwas Wasserspendendes, aber unter Umständen auch etwas Gefährliches) oder eine Treppe (etwas sehr Praktisches) sind, um eine Idee davon zu gewinnen. Genauso verhält es sich mit abstrakten Sachverhalten, wie zum Beispiel der Schönheit. Welcher Idee von Schönheit und Ästhetik hängen wir an, wenn wir jemanden oder etwas, einen Wasserfall zum Beispiel oder eine schwungvoll gestaltete Treppe, als schön ansehen? Aber auch ethische Sachverhalte sind durch uns Menschen erst wahrzunehmen, zu beurteilen und anzuwenden, insofern sie einer Idee unterliegen. Platon zufolge ist die Idee des Guten der Maßstab, an dem das Tun dann ausgerichtet werden muss, will man moralisch handeln.

Soweit die antike Idee Platons, was die Ideologie, also die Ideenlehre betrifft. Der moderne Ideologiebegriff, der unser heutiges Zusammenleben prägt, ist dreifach zu unterscheiden: (1) In den wissenstheoretischen Begriff: Erfasst werden Gruppen von Erkenntnissen, Kategorien oder auch Werten und damit ist die Basis geschaffen für Entscheidungen auf Grundlage dieser, auf (möglichst) wissenschaftlichen Kriterien beruhenden, sich entwickelten und weiterentwickelnden Erkenntnissen, Kategorien und Werten. Zudem (2) zurückgehend auf Francis Bacon (1561-1626) in den Begriff, wie wir ihn heute mehrheitlich und alltagssprachlich verstehen und wie er in der politischen Diskussion meist verwendet wird: als Weltanschauung nämlich, die bloßen Vorurteilen und Täuschungen unterliegt. Und (3) darauf aufbauend als spezifisch instrumentalisierend eingesetzten Begriff: dieser soll in der politischen Diskussion dem Umstand dienen, die eigene Machtbasis zu sichern sowie wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Karl Marx (1818-1883) hat den Begriff in diesem Zusammenhang so definiert, dass die bürgerliche Klasse ihre Vorherrschaft sichern möchte, und zwar auf Basis ihrer eigenen partikulären ökonomischen Interessen, die für allgemeingültig erklärt werden. Wahre philosophische, soziale, politische Erkenntnis der Ideen (vergleiche Platon), auch wahre Erkenntnis der gesellschaftlich-sozialen Strukturen ist auf dieser Basis nicht möglich, da diese Erkenntnis stets den eigenen Machtanspruch, aber auch die eigenen ökonomischen Interessen in Frage stellen würde. Der Status quo soll verteidigt werden.

Interessant ist, dass Karl Marx bereits im 19. Jahrhundert den Zusammenhang hergestellt hat, der bis heute aktuell scheint: gefangen in ihren eigenen Ideologien des Machterhalts und der ökonomischen Interessen stammt der Vorwurf der Ideologie an andere meist aus dem Spektrum der klassisch als bürgerlich zu bezeichnenden Parteien, wie die oben ausgeführten Beispiele (CSU, CDU, FDP) exemplarisch verdeutlichen. Als ob der Vorwurf der Ideologie an andere prophylaktisch verhindern könne, selbst dem Ideologievorwurf ausgesetzt zu sein oder ausgesetzt zu werden.

Kommen wir damit nochmals zurück auf die eingangs erwähnten Beispiele, in denen Anderswissenden der Ideologie-Vorwurf gemacht wird. Fracking ist eine technische Möglichkeit, fossile Energieträger zu gewinnen, widerspricht aber nicht nur der Notwendigkeit einer Energiewende hin zu nachhaltigen Formen, sondern damit ebenso der vielleicht doch noch möglichen Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels der Erderwärmung. Die Abkehr von der Atomkraft aus ökologischen, ökonomischen und zukunftsorientierten Gründen aus heutiger Sicht anerkannt sinnvoll und in der deutschen Bevölkerung verankert, daher läuft der Begriff der Ideologie als Vorwurf ins Leere, wendet sich vielmehr gegen den Vorwerfenden selbst, da dieser der fortschreitenden Erkenntnis nicht Schritt hält. Es werden demgegenüber selbstverständlich auch Gründe ins Feld geführt, Fracking zu betreiben oder die Laufzeit von Atomkraftwerken zu verlängern (wie Fragen der aktuellen Energiesicherung), diese sind aber ebenso ideologisch geprägt, unterliegen selbst einer Idee, jedoch einer (überkommenen) Weltanschauung im Zeitalter Erneuerbarer Energieformen. Technikgläubigkeit, die in den Diskussionen um Atomkraft oder um Methoden wie dem Fracking an den Tag gelegt wird, ist ebenfalls ideologisch geprägt, der Vorwurf – will man einen solchen konstruieren – ließe sich also bestens umdrehen. Und ein allgemeines Tempolimit rettet nicht nur Menschen- und Tierleben, sondern würde auch die Lärm- und Feinstaubbelastung senken, damit zur Gesundheit vieler beitragen, die Abhängigkeit von Öl senken und damit zur Reduzierung des CO2-Verbrauchs beitragen. Das Festhalten am Slogan „freie Fahrt für freie Bürger“ offenbart ein sehr einseitiges Verständnis einer Idee von Freiheit – und ist damit Ideologie. Technikgläubigkeit oder ein sehr eng definierter Begriff persönlicher Freiheit sind also ebenso Ideologien, egal aus welchem Blickwinkel man diese betrachtet.

Es darf und sollte einen Wettstreit um die besten Ideen geben, wobei die besten Ideen den Kriterien der Zukunftsfähigkeit, der Gemeinwohlorientierung und ganz allgemein der unabdingbaren „Lebensdienlichkeit“ (Peter Ulrich) unterliegen müssen. Insofern der wissenschaftliche und technische Stand der Forschung Eingang in die Ideen findet und Bestandteil des kritischen Diskurses unter Berücksichtigung der genannten Kriterien ist, würde das einem positiven Ideologiebegriff folgen. Technik um der Technik willen dagegen bleibt Selbstzweck und es kann sich der Eindruck verfestigen, der Einsatz soll allein dem Erhalt machtbezogener und/oder ökonomischer Vorteile (Energieversorger, Ölproduzenten, Autobauer) dienen.

Wenn ein Politiker oder eine Politikerin einem Politiker oder einer Politikerin eines anderen politischen Lagers also Entscheidungen oder Begründungen aus „ideologischen Gründen“ attestiert und diese Entscheidungen damit bloß diskreditieren will, verkennt diese:r mehrere Punkte:

  1. Alle Entscheidungen, auch die eigenen, unterliegen letztlich und ganz basal ideologischen Gründen, da sie einer Weltanschauung, einem Erkenntnisstand und einer Idee unterliegen. Der eigene Standpunkt ist geschichtlich, gesellschaftlich und sozial ideologisch (geprägt) und daher läuft ein Vorwurf der Ideologie an andere ins Leere. Selbst, wenn man sich selbst attestieren möchte, vermeintlich ideologiefrei zu sein, kann das auf zweifachem Wege widerlegt werden: Wie fatal wäre es denn, würde der Mensch keinerlei Ideen und Überzeugungen anhängen und vor allem neue Erkenntnisse nicht im Rahmen (s)einer Entwicklung einbeziehen? Und insofern man sich selbst als vermeintlich frei von Ideologie definiert, ist auch das bereits wieder Ideologie, nämlich eine bloß idealisierte oder idealisierend gemeinte Idee von sich selbst und auch so kann dieses Argument ad absurdum geführt werden.
  2. Der diskreditierend vorgebrachte Vorwurf der Ideologie ist stets total, da dem anderen die Möglichkeit einer objektiven Beurteilung der Sache abgesprochen wird. Damit handelt es sich um ein sog. Totschlagargument, was der Idee eines seriösen politischen Diskurses widerspricht und – siehe Marx – dem bloßen Machterhalt auf Basis partikulärer Interessen dienen soll.
  3. Wenn eine Entscheidung auf Ideologie beruht, beruht sie – den wissenschaftlichen Begriff von Ideologie heranziehend – bestenfalls auf der Basis fortschreitender Erkenntnis. Der Ideologiebegriff ist dem Grunde nach also etwas sehr Positives, auch wenn er heutzutage mehrheitlich negativ belegt ist oder so verwendet wird.

Mit dem einseitigen Vorwurf an den (politischen) Gegner, aus ideologischen Gründen für oder gegen etwas zu sein, sollte man sich meines Erachtens daher zurückhalten. Denn entweder offenbart die Verwendung dieser Begrifflichkeit Unwissen über den Begriff (was niemand wollen kann) oder er wird rein instrumentalisierend eingesetzt, um den anderen unsachlich, nicht auf Basis des aktuellen Wissens- und Erkenntnisstandes zu diskreditieren und so die eigene Machtbasis zu sichern (was niemand wollen sollte). Kommt beides zusammen, also Unwissenheit und der Versuch plumpen Diskreditierens, wird es bösartig; Dummheit gepaart mit Handeln aus reinem Eigennutzen ist selbstzwecklicher Populismus in seiner niedersten Form und zeugt daneben nicht vom Willen echten politischen Diskurses zum Widerstreit der besten Ideen. Die andere Meinung soll bloß zum eigenen Machterhalt und eventuell auch zur Wahrung der eigenen ökonomischen Vorteile diskreditiert werden.

Die Orientierung an Erkenntnis, an Werten, die Orientierung an Normen und Maßstäben, wie an Platons Idee des Guten (Ethik) und an fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnissen sollten Richtschnur dessen sein, an dem wir unser Handeln ausrichten. Es wird höchste Zeit, dass wir den Ideologie-Begriff als positiven anerkennen und uns durchaus selbstbewusst, stolz und aus guten Gründen, abseits bloßer ökonomischer und machtbasierter Interessen, als Ideologen bezeichnen. Anhand dessen gilt es in der Folge, in den argumentativen Austausch zu gehen.

Objektivität in der Wissenschaft und Subjektivität in der Wahrnehmung bleiben freilich im Gegensatz, die Diskrepanzen in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung erleben wir jeden Tag. Wirtschaftliche Vorteile und Maßnahmen des Machterhalts orientieren sich nicht immer an der Wissenschaft, an einem Prinzip des Guten oder am unabdingbar Lebensdienlichen. Einem positiven Begriff der Ideenlehre folgend kann der schöne, zukunftsorientierte Satz von P. Peter Ehlen SJ aus dem Philosophischen Wörterbuch (Freiburg 2010, Seite 217), zum Nachdenken anregen, will man das nächste Mal einen anderen „bloßer Ideologie“ zeihen:

„Dass […] Erkenntnis den gesellschaftlichen Bedingungen verpflichtet ist, in denen sie vollzogen wird, ist nicht zu bestreiten; zugleich bleibt wahr, dass diese an Normen zu messen und auf sie hin zu verändern sind, die mit dem Faktischen noch nicht mitgegeben sind.“

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Zum Weiterlesen:
Die unbedingte Fortschrittsgläubigkeit im Übrigen ist ein speziell europäisches Phänomen, wie der Islamwissenschaftler Thomas Bauer sehr schön und lesenswert nachgewiesen hat. Auch wenn Fortschrittsgläubigkeit nicht allein auf Technikgläubigkeit zu reduzieren ist, entwickelte sich die Fortschrittsgläubigkeit als Ideologie (!) – verkürzt dargestellt – als eine Art Ersatzreligion seit der Reformation, insofern sich der Mensch nach Eindeutigkeit im Leben sehnt. (Vgl. u.a. Magazin der Süddeutschen Zeitung, Nummer 15/2022, Seiten 28-32.)
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