Demokratie- oder Kapitalismusverdrossenheit?

Die Herrschaftsorganisation der Demokratie (griechisch: die Herrschaft des Volks) als Konzept ist schon sehr alt und geht – wie so viele ideengeschichtliche Konzepte – wesentlich auf die Philosophen des antiken Griechenlands (Platon, Aristoteles) zurück. In (vor-)moderner, zumindest aber noch vor-aufklärerischer Zeit hat der englische Philosoph John Locke (1632-1704) dann unser bis heute vorherrschendes Demokratieverständnis begründet. Locke definierte die Gewaltenteilung, ebenso aber die Pflicht einer jeden Regierung, Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger:innen zu schützen, als konstitutiv für eine Demokratie. In unserem westlichen Kulturkreis haben sich diese Gedanken der sog. liberalen Demokratie verfestigt, gekennzeichnet durch unabdingbare Menschenrechte (Gleichheit, Freiheit) sowie freie und geheime Wahlen, Orte der freien politischen Diskussion (Parlamente) oder auch die Gewaltenteilung und das Vorhandensein einer Opposition.

Aktuell hören und lesen wir vielfach die Diagnose und es wird öffentlich darüber diskutiert, die Menschen seien „demokratieverdrossen“ oder „demokratiemüde“. Gestützt wird diese These gerne durch den Hinweis auf sinkende Wahlbeteiligungen und durch Umfrageergebnisse. So ergaben die Erhebungen der Robert Bosch Stiftung gemeinsam mit dem Think-Tank More in Common im Jahr 2020 etwa die Ergebnisse, dass zwar 93 % der Befragten die Idee der Demokratie nach wie vor als wichtig und richtig erachten und es 94 % gerne in einer Demokratie leben. Das alleine stützt die These einer Demokratieverdrossenheit noch nicht. In eben dieser Umfrage wurde gleichzeitig jedoch der Wunsch artikuliert, im Zweifel einen starken Führer (sic!) zu haben, der im Notfall die Herrschaft hat und allein entscheiden kann (immerhin 21 % der Befragten votierten so). Dass viele Menschen offen die verfassungsfeindliche und damit als demokratiefeindlich einzustufende Alternative für Deutschland (AfD) wählen und deren Thesen befürworten, wird oftmals als weiteres Indiz dafür angeführt, dass demokratische Grundgedanken in den Hintergrund treten. Einer Umfrage des Magazins „Der Spiegel“ im Jahr 2022 zufolge zeigen sich junge Menschen zudem oftmals zumindest demokratieskeptisch, weil sie sich von der Politik nicht wahrgenommen fühlen. Dieser Wert ist wohl allem wohl den Maßnahmen in der Hochphase der Corona-Pandemie in den Jahren 2019-2022 geschuldet.

Auch auf diesen empirischen Beobachtungen aufbauend möchte ich hier eine These zur Diskussion stellen: Ich denke nicht, dass die Menschen wirklich demokratieverdrossen sind, ich denke die Menschen sind vielmehr kapitalismusverdrossen. Um diese These zu stützen liefere ich nachstehend einerseits eine normative Erklärung, die ich andererseits mit empirischen Beobachtungen und Entwicklungen zu unterstützen suche.

Meine normative Argumentation lautet: Die Demokratie in unserer heutigen Zeit stellt nicht mehr oberstes Ziel und Zweck des Zusammenlebens dar, sie dient damit nicht mehr vordringlich dem oben genannten Schutz der Bürger:innen. Vielmehr ist die Demokratie in weiten Teilen zum bloßen Mittel verkommen, den Kapitalismus zu schützen und als Zweck zu bewahren.

Eine weit verbreitete Meinung (und ich bezeichne das ausdrücklich als Meinung), ist es, mehr Markt sei immer gut. Historisch gesehen hat die Angst des Westens vor dem Kommunismus dazu geführt, die Soziale Marktwirtschaft zu begründen. Gerade weil das Programm des Kapitalismus die absolute Freiheit des Einzelnen betonte und das sozialistische System die Solidarität mit anderen, sah man sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der BRD genötigt, sich das Feigenblatt des sog. „Sozialdemokratischen Kompromisses“ (Ralf  Dahrendorf) anzuheften. Soziale Zugeständnisse an die Bevölkerung sorgten trotz jeder kapitalistischen Ausrichtung in der Wirtschaftswunderzeit nicht zuletzt für Wahlerfolge. 1989 obsiegte der Kapitalismus, wiewohl er ebenso, wie der Kommunismus ein „metaphysisches Glaubenssystem“ (Peter Ulrich) darstellt, das als bloße Überzeugung an der Wirklichkeit scheitern kann. (Die VR China macht uns aktuell zum Beispiel auch vor, wie man Staatskommunismus mit Kapitalismus bestens verbinden kann.) Die Marktwirtschaft selbst ist dabei ein bloßes rechtsstaatliches Konstrukt, das Regeln und Gesetzen unterliegt.

Verbunden ist dieses Verständnis damit, was wir als liberale (Wirtschafts-)Politik bezeichnen. Dabei ist jedoch zu unterscheiden zwischen einem alt-liberalen Verständnis und einem neo-liberalen Verständnis (wie es heute vielfach vorherrscht): Altliberalismus meint dabei die Voraussetzung einer wohlgeordneten (demokratischen) Gesellschaft und soziale Harmonie, auf deren Grundfesten sich eine freie Marktwirtschaft zum Wohle aller erst entfalten kann. Die Rahmenbedingungen dafür gibt der Staat vor. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen leitet – unter Berufung auf den schottischen Moralphilosophen Adam Smith (1723-1790) – die „unsichtbare Hand“ dann die Marktkräfte, was zu einer Mehrung des Gemeinwohls führt. Der Neoliberalismus pervertiert diese Idee und missbraucht Adam Smith mit seiner „invisible hand“ argumentativ bis heute. Die Idee des Neoliberalismus propagiert dabei den umgekehrten Weg, nämlich die Idee, dass ein staatlich möglichst ungeregelter Markt, auch in Form nur rudimentär vorhandener Sozialpolitik im Übrigen (die „invisible hand“ wird an dieser Stelle im Diskurs definitorisch angesetzt, was nicht dem Grundgedanken Adam Smiths entspricht), zu steigendem Wohlstand und damit dann erst zu einer wohlgeordneten Gesellschaft und sozialer Harmonie führen würde. Als Norm wird daher im Neoliberalismus nicht die wohlgeordnete Gesellschaft (also eine plurale, freie und sozial gefestigte) Gesellschaft angesehen, die Norm in Neoliberalismus ist der freie, ungeregelte Markt. Eine Annahme, die sich nicht nur ethisch, sondern gerade auch praktisch im Turbo-Kapitalismus unserer Zeit regional, aber auch global nicht halten lässt. Hierzu brauchen wir nur die sozialen Verwerfungen, das Steigen von Ungleichheit, Tatsachen struktureller Armut, von Kinderarbeit, Korruption oder auch ganz konkret die wiederkehrenden Finanzkrisen usw., betrachten. Totale Marktwirtschaft und Kapitalismus (zumal ungeregelter Kapitalismus) führen zu einem „ökonomischen Zirkel“ (Peter Ulrich) und damit zwangsläufig zu Ungleichheiten. Und ganz ursprünglich gesehen: Im Zuge der Industriellen Revolution, also einer Phase uneingeschränkten Kapitalismus, wurde die Armut für alle gerade nicht beseitigt, vielmehr entstand ganz andere, neue Armut trotz Arbeit, bei unfassbarer Gewinnmaximierung der „Kapitalisten“. Beobachtungen, die wir heute auf die global betrachtetet Industrialisierung wiederum anwenden können.

Diverse empirische Beobachtungen möchte ich heranziehen, um meine Argumentation  zu untermauern. So bereichern sich nicht nur (auch demokratisch gewählte) Politiker:innen weltweit persönlich; es wird zu selten auch für Transparenz gesorgt, wie politische Entscheidungen zustande gekommen sind und wie dem grassierenden Lobbyismus neoliberalen Verständnisses begegnet wird. Selbst die bloße Einführung eines einfachen Lobbyregisters (welche:r Abgeordnete hat sich mit welchem Lobbyverband wann getroffen) scheiterte in Deutschland lange vor allem am Widerstand von CDU/CSU. (Ironischerweise wurde dieser Widerstand dann aufgegeben, nachdem es bei Abgeordneten eben dieser Fraktionen, namentlich etwa bei Philipp Amthor, Georg Nüßlein, Nikolas Löbel, Mark Hauptmann oder Alfred Sauter zu Affären rund um Lobbyismus und Korruption gekommen war).

Vor dem Hintergrund einer vorgeblichen und propagierten Steigerung des Gemeinwohls steckt hinter vielen Gesetzen und Vorhaben tatsächlich oftmals nur die Vorteilserwartung weniger. Den Benkos und Bankern dieser Welt wird trotz den Erfahrungen mit anderen Immobilien-Pleitiers und Pleite-Banken auch seitens der Politik nur allzu gerne allzu viel Steuergeld hinterhergetragen. Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung steigt weiter an (die sog. soziale Schere geht immer weiter auseinander). Ein Zusammenhang, den nicht zuletzt die ungleiche Besteuerung von Arbeit und Kapital stetig befeuert. Während der eigenen Hände Arbeit mit einem Spitzensteuersatz von aktuell bis zu 42 % besteuert wird, gilt für Kapitalerträge egal bis zu welcher Höhe der Abgeltungssteuersatz von 25 %. Eine Regelung, die übrigens unter der rot-grünen Regierung und unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler (Gerhard Schröder) eingeführt wurde. Gleichzeitig wird der Sozialstaat immer weiter zurückgedrängt, Armut und Migration werden auch seitens der Politik gegeneinander ausgespielt. Daneben werden (klima-)schädliche Subventionen nicht abgeschafft, was zu einer verfestigen Externalisierung und Vergesellschaftlichung von Kosten (zum Beispiel für das Gesundheitswesen im Rahmen des Klimawandels) bei gleichzeitiger privatwirtschaftlicher Maximierung der Unternehmensgewinne führt. Besonders negativ in Erscheinung getreten ist beispielsweise auch die FDP mit der seinerzeit so genannten „Mövenpick-Steuer“, also einer Steuererleichterung für Hoteliers, was sogar das an sich konservative Handelsblatt veranlasste von einem „Steuergeschenk“ zu schreiben. Warum hier die Aufgabe der Steigerung des Gemeinwohls auf der Strecke geblieben ist, mag niemand recht beantworten können. Umso schlimmer, falls doch.

Diese Beispiele sollen ausreichen, um zu verdeutlichen, dass es verständlich scheint, wenn  Menschen sich hier innerlich abwenden und ein solches Demokratieverständnis zunehmend nicht mehr teilen. (Was es keineswegs legitimiert, deswegen eine rechtsradikale und demokratiefeindliche Partei zu wählen).

Demokratie wird  – und diese These habe ich versucht, zu untermauern – vielfach nur noch als Mittel zum Zweck der (neoliberalen) Gewinnmaximierung für Wenige verstanden. Die Politik sollte sich daher wieder stärker darauf konzentrieren, den Schutz des Lebens, der Freiheit und des Eigentums aller Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht nur das Wohl weniger. Ordnungspolitische Rahmenbedingungen geben Struktur und innerhalb dieser Rahmenbedingungen ist unternehmersicher Erfolg selbstverständlich möglich und muss es auch bleiben. In einer sozialen Marktwirtschaft, als die wir uns bezeichnen, bleiben die Schaffung und Bewahrung sozialer Wohlfahrt und sozialen Friedens sich wechselseitig mit unternehmerischem Erfolg ergänzend jedoch unabdingbar. In diesem republikanischen Bürgersinne als gute Bürger:innen zu handeln, für die Demokratie und deren Weiterentwicklung zu kämpfen, zum Wohl aller Menschen und jede:r in jeder sozialen Rolle (Privatleben, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft), ist unabdingbar, das Vertrauen in unsere demokratisch verfasste Grundordnung nicht weiter erodieren zu lassen.

Zum Weiterlesen:

Gertrud Brücher zeigt in ihrer großartigen Monographie „Pazifismus als Diskurs“ (Wiesbaden 2008) eindrücklich auf, wie sich der von mir skizzierte Zusammenhang spezifisch auf (internationale) Pazifismusdiskussionen auswirkt. Der reale Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus führt dazu, dass das westliche Modell sich ständig selbst rechtfertigen muss, da der Antagonist „Kommunismus“ und die Selbstvergewisserung über die Abgrenzung seither fehlt. Gerade daher sich muss das kapitalistische Modell dann auch mit kriegerischen Mitteln, oftmals unter den Deckmäntelchen der Verteidigung von Menschenrechten und unseres westlichen Werteverständnisses und Menschenbilds, selbst verteidigen. Dass sich auch dahinter vielfach bloß reiner kapitalistischer Eigennutzen (Öl, Absatzmärkte) verbirgt, verdeutlicht das Beispiel des verlogenen und letztlich gar völkerrechtswidrigen Irakkriegs der USA unter George W. Bush.

Wichtige Grundgedanken des Schweizer Wirtschaftsethikers Peter Ulrich auch zu den von mir skizzierten Themen lassen sich gut und kompakt hier nachhören: Wirtschaft und Gesellschaft – Aus einem Grundsatzgespräch mit Peter Ulrich – YouTube.

Die Grundzüge der Argumentation meines Beitrags habe ich auch im Rahmen der „Philosophischen Stunde des VPU – Verband für Philosophie und Unternehmensberatung präsentiert. Der Mitschnitt des kurzes Impulsvortrags findet sich ebenfalls auf YouTube: Philosophische Stunde Februar 2024: Demokratie- oder Kapitalismusverdrossenheit? (youtube.com)

Das Beitragsbild stammt von Tom Toro, gefunden auf Facebook.

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